Die Zeit der Hundert Königreiche - 4
sie mir hilft, meine Beinschiene anzulegen -, daß ich nicht geringer als andere bin.« »Du bist der König«, stellte Bard fest, aber Alaric seufzte nur resigniert.
»Du verstehst überhaupt nicht, was ich meine, Bard! Du bist so stark, und du hast nie richtig kennengelernt, was Krankheit oder Angst ist. Wie sollst du mich auch verstehen? Weißt du, wie es ist, wenn man vor Angst ganz außer sich ist, Bard? Als ich das Fieber bekam und nicht einmal atmen konnte … Geremy und drei von Ardrins Heilerinnen saßen sieben Nächte lang mit ihren Sternensteinen bei mir, nur um mich atmen zu machen, wenn ich es nicht konnte.« Gegen seinen Willen erinnerte sich Bard an das Entsetzen, das ihn am Ufer des Sees des Schweigens ergriffen hatte, als die unheimlichen Gesichter mit dem Nebel auf ihn zutrieben und seine Eingeweide in Wasser verwandelten … Aber nicht einmal seinem Bruder würde er das gestehen. »Ich hatte Angst, als ich das erste Mal in die Schlacht ritt«, sagte er. Dies Geständnis machte ihm nichts aus.
Alaric seufzte neidisch.
»Du warst nicht älter als ich jetzt, und du wurdest zu König Ardrins Bannerträger ernannt! Aber eine solche Angst ist anders, Bard. Du hattest ein Schwert, du konntest etwas gegen deine Angst tun! Und ich
- ich konnte nur daliegen und mich fragen, ob ich sterben würde, und ich wußte, so oder so konnte ich nichts dagegen tun, ich war völlig hilflos. Und danach weiß man, daß es wieder geschehen, daß man sterben oder getötet werden kann. Ganz gleich, wie tapfer ich bin, ich weiß jetzt, daß es immer etwas gibt, gegen das ich nicht ankämpfen kann«, sagte Alaric. »Und in Gegenwart mancher Menschen habe ich dies Gefühl immerzu, daß ich ein armer, kranker, gelähmter Feigling bin. Und andere wie Varzil und Melisandra erinnern mich daran, daß ich das nicht zu sein brauche, daß das Leben wirklich nicht so schrecklich ist. Verstehst du, was ich meine, Bard? Wenigstens ein bißchen?«
Bard sah den Jungen an und seufzte. Da flehte ihn sein Bruder um Verständnis an, und er wußte nicht, wie er es ihm geben sollte! Er hatte schon Soldaten in dieser Verfassung gesehen, Männer, die an einer Verwundung beinahe gestorben wären, und wenn sie dann doch am Leben blieben, war in ihnen etwas geschehen, das er nicht verstand. Dasselbe war mit Alaric passiert, aber bevor er alt genug gewesen war, um damit fertig zu werden.
»ich glaube, du bist zuviel allein«, sagte Bard, »und deshalb grübelst du zuviel. Doch ich bin froh, daß Melisandra freundlich zu dir ist.«
Alaric seufzte und streckte Bard seine kleine, weiße Hand entgegen, und Bard umschloß sie mit seiner großen gebräunten. Bard verstand ihn absolut nicht, dachte Alaric, aber er liebte ihn, und das war ebensogut.
»Ich hoffe, du bekommst deine Frau zurück, Bard. Es ist sehr schlecht von diesen Leuten, daß sie sie von dir fernhalten.« Bard sagte: »Alaric, Vater und ich müssen den Hof für ein paar Tage verlassen. Vater und ich und einige seiner Leroni. Dom Jerral wird hier sein, um dir Rat zu geben, wenn du ihn brauchst.«
»Wohin geht ihr?«
»Vater weiß von jemandem, der eine große Hilfe bei der Führung der Armee wäre, und wir wollen ihn suchen.«
»Warum befiehlt er ihm nicht einfach, an den Hof zu kommen? Der Regent kann jedem befehlen zu kommen.«
»Wir wissen nicht, wo er lebt«, antwortete Bard. »Wir müssen ihn durch Laran suchen.« Das, dachte er, genügte als Erklärung vollauf. »Nun, wenn ihr gehen müßt, dann müßt ihr. Aber bitte, kann Mehsandra bei mir bleiben?« fragte Alaric. Obwohl Bard wußte, daß Melisandra eine der fähigsten Leroni war, entschloß er sich, seinem Bruder die Bitte nicht abzuschlagen.
»Wenn du Melisandra bei dir haben willst«, antwortete er, »dann soll sie bleiben.«
Bard hatte sich auf einen Streit mit seinem Vater gefaßt gemacht, aber zu seiner Überraschung nickte Dom Rafael.
»Ich hatte sowieso nicht die Absicht, Melisandra mitzunehmen. Sie ist die Mutter deines Sohnes.«
Bard dachte, welchen Unterschied das wohl mache, aber es war ihm nicht der Mühe wert, danach zu fragen. Ihm genügte es, daß sein ]Bruder Melisandras Gesellschaft wünschte.
Sie verließen die Burg noch in dieser Nacht und ritten zu Bards altem Vaterhaus. Drei Leroni, zwei Frauen und ein Mann, begleiteten sie. Dom Rafael führte sie in einen Raum, den Bard noch nie betreten hatte, eine altes Turmzimmer am Ende einer zerbrochenen Treppe. »Seit Jahrzehnten habe ich nichts von diesen Dingen mehr
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