Die Zeit der hundert Königreiche
Vielleicht wird Avarra sie zum Werkzeug ihrer Rache machen. Entkommen kann Bard seiner Strafe nicht.« Sie erschauerte; ihr Gesicht war weiß vor Entsetzen. »Ich dachte, selbst Bard hätte sich die Warnung zu Herzen genommen, als er das erste Mal von der Insel vertrieben wurde«, flüsterte sie. »Ich hasse Bard nicht, er ist der Vater meines Sohns. Und doch … und doch …«
Verzweifelt lief sie im Zimmer auf und ab. »Und die Strafe für einen Mann, der eine Priesterin Avarras vergewaltigt … ist schrecklich! Erst hat er sich die Schwesternschaft vom Schwert zum Feind gemacht, und nun dies!«
Paul beobachtete sie besorgt. Sein ganzes Leben lang hatte er geglaubt, Frauen wünschten sich im Grunde, beherrscht zu werden, in ihrem tiefsten Inneren verlangten sie danach, daß ein Mann sie nahm. Und wenn sie es nicht wußten, tat ein Mann ihnen nichts Böses, wenn er ihnen zeigte, was sie in Wirklichkeit wollten. Während er jetzt Melisandra betrachtete, hatte er keinen Zweifel daran, daß sie wußte, was sie wollte, und das war für ihn eine neue und ziemlich beunruhigende Vorstellung. Aber Bard hatte sie gegen ihren Willen genommen … Er merkte, daß er diesen Gedanken nicht zu Ende denken durfte, oder er würde Bard umbringen wollen.
Ich will Bard nicht töten. Irgendwie ist er zu einem Teil meiner selbst geworden …
»Aber was ist mit der Schwesternschaft, Melisandra? Sie laufen unter Männern umher und stellen ihre Weiblichkeit zur Schau. Haben sie das Recht zu sagen: Ja, hier bin ich, aber du darfst mich nicht anrühren? Ich bin auch der Meinung, daß Frauen nicht berührt werden sollten, die unter dem Schutz ihrer Männer zu Hause bleiben. Doch die Schwestern vom Schwert haben auf diesen Schutz verzichtet …«
»Glaubst du, alle Frauen seien gleich? Ich kenne die Schwestern vom Schwert nicht, auch wenn ich hin und wieder mit einer von ihnen gesprochen habe. Ich weiß sehr wenig von ihrem Leben. Wenn sie sich jedoch entschlossen haben, das Schwert zu ergreifen, sehe ich nicht ein, warum man sie das nicht in Frieden tun lassen soll …« Sie merkte, was sie gesagt hatte, und kicherte. »Das meine ich natürlich nicht. Aber man sollte sie nicht daran hindern. Warum soll der Zufall der Geburt sie des Rechts berauben, Krieg zu führen, wenn sie das dem Nähen von Mänteln und Sticken von Kissen und Zubereiten von Käse vorziehen?«
Paul mußte über ihren Eifer lächeln. »Als nächstes wirst du noch sagen, Männer sollten das Recht haben, ihr Leben mit dem Besticken von Tischtüchern und dem Waschen von Windeln zuzubringen!«
»Zweifelst du daran, daß manche Männer dazu besser geeignet wären als für den Krieg?« fragte sie. »Und wenn sie Röcke anziehen und zu Hause bleiben und den Brei kochen wollten! Eine Frau kann wenigstens heiraten oder eine Leronis werden oder sich der Schwesternschaft angeloben und ihre Ohren durchbohren und das Schwert ergreifen, aber die Götter mögen dem Mann helfen, der etwas anderes zu sein wünscht als ein Soldat oder Landmann oder Laranzu ! Warum sollte eine Frau, die das Schwert trägt, eine Vergewaltigung zu fürchten haben, wenn sie besiegt wird? Ich bin eine Frau – möchtest du erleben, daß ich so mißbraucht werde?«
»Nein«, sagte Paul. »Ich würde jeden Mann töten, der es versucht, und er sollte nicht leicht sterben. Aber du bist eine Frau, und sie …«
»Und sie sind auch Frauen«, unterbrach sie ihn ärgerlich. »Wenn Frauen dem Pflug folgen oder in der Wildnis Tiere hüten müssen, um den Lebensunterhalt für ihre verwaisten Kinder zusammenzukratzen, werden sie von den Männern auch nicht für unweiblich gehalten. Ein Mann, der eine einsame Hirtin oder Fischerin vergewaltigt, wird überall als einer verachtet, der keine willige Frau finden kann. Warum sollen nur Schwertkämpferinnen vogelfrei sein? Wenn du einen Feind gefangennimmst, stehen dir seine Waffen zu, und du kannst ihn zwingen, sie auszulösen, und in der schlechten alten Zeit konntest du ihn auf Jahresfrist als Diener behalten. Aber du zwingst ihn doch nicht zum Beischlaf!«
»Das hat Bard auch gesagt«, berichtete Paul. »Er befahl seinen Männern, sie als Kriegsgefangene mit Achtung zu behandeln, sonst würden sie ausgepeitscht.«
Melisandra fragte: »Wirklich? Das ist das Beste, was du mir je über Bard di Asturien erzählt hast. Vielleicht ändert er sich mit dem Älterwerden, wird mehr ein Mensch und weniger ein wilder Wolf …«
Paul sah sie scharf an. »Du haßt ihn nicht
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