Die Zeit der Verachtung
gerade gewöhnliche Menschen zu Bett gingen, müde von ihrem gewöhnlichen Menschenleben und ihrer gewöhnlichen Arbeit, voller gewöhnlicher menschlicher Sorge um das Schicksal, um den morgigen Tag. Die Zauberin richtete den Blick zu dem Brief, der auf dem Tisch lag. Ein Brief, adressiert an die gewöhnlichen Menschen. Dass die meisten gewöhnlichen Menschen nicht lesen konnten, hatte keine Bedeutung.
Sie stellte sich vor den Spiegel. Ordnete die Haare. Zog das Kleid zurecht. Schnippte von dem Puffärmel ein nicht vorhandenes Staubkörnchen. Rückte im Dekolleté das Spinell-Halsband zurecht.
Die Leuchter unter dem Spiegel standen ungleichmäßig. Die Dienerin musste sie beim Saubermachen verrückt haben. Die Dienerin. Eine gewöhnliche Frau. Ein gewöhnlicher Mensch, die Augen voller Furcht vor dem Kommenden. Ein gewöhnlicher Mensch, verloren in Zeiten der Verachtung. Ein gewöhnlicher Mensch, der Hoffnung und Gewissheit bei ihr suchte, der Zauberin ...
Ein gewöhnlicher Mensch, dessen Vertrauen sie enttäuscht hatte.
Von der Straße drang das Geräusch von Schritten heran, der harte Tritt schwerer Soldatenstiefel. Tissaia de Vries zuckte nicht einmal, wandte den Blick nicht zum Fenster. Es war ihr gleichgültig, wessen Schritte das waren. Königliche Soldaten? Der Profos mit dem Befehl zur Verhaftung der Verräterin? Gedungene Mörder? Von Vilgefortz gesandte Häscher? Es kümmerte sie nicht.
Die Schritte verhallten in der Ferne.
Die Leuchter unter dem Spiegel standen ungleichmäßig. Die Zauberin richtete sie aus, korrigierte die Lage der Serviette, so dass deren Ecke genau in der Mitte lag, symmetrisch zu den quadratischen Füßen der Leuchter. Sie streifte die goldenen Armbänder ab und legte sie schön gleichmäßig auf die glattgestrichene Serviette. Sie betrachtete sie kritisch, fand aber nicht den geringsten Fehler. Alles lag gleichmäßig, ordentlich. So, wie es zu liegen hatte.
Sie öffnete eine Schublade der kleinen Kommode, nahm ein kurzes Messer mit beinernem Handgriff heraus.
Ihr Gesicht war stolz und reglos. Tot.
Im Hause war es still. So still, dass zu hören war, wie ein Blütenblatt einer welkenden Tulpe auf die Tischplatte fiel.
Die Sonne, rot wie Blut, senkte sich langsam hinter die Dächer.
Tissaia de Vries setzte sich in den Sessel am Tisch, blies die Kerzen aus, rückte noch einmal die quer über dem Brief liegende Feder zurecht und schnitt sich an beiden Handgelenken die Pulsadern auf.
Die Ermüdung durch die ganztägige Reise und die vielen Eindrücke machte sich bemerkbar. Rittersporn erwachte und merkte, dass er wahrscheinlich im Laufe der Erzählung eingeschlafen war, mitten im Satz zu schnarchen begonnen hatte. Er regte sich und wäre beinahe von dem Haufen Zweige heruntergerutscht – Geralt lag nicht neben ihm, so dass das Gewicht auf der Lagerstatt ungleichmäßig verteilt war.
»Wo ...« Er räusperte sich, setzte sich auf. »Wo war ich stehengeblieben? Aha, bei den Zauberern ... Geralt? Wo bist du?«
»Hier«, sagte der Hexer, der in der Dunkelheit kaum zu sehen war. »Fahr bitte fort. Du wolltest mir gerade etwas über Yennefer sagen.«
»Pass auf.« Der Dichter wusste genau, dass er nicht die geringste Lust hatte, die genannte Person auch nur zu erwähnen. »Ich weiß wirklich nichts ...«
»Lüg nicht, ich kenne dich.«
»Wenn du mich so gut kennst«, erwiderte der Troubadour gereizt, »warum zum Teufel verlangst du dann, dass ich rede? Wenn du mich aus dem Effeff kennst, musst du wissen, warum ich mich ausschweige, warum ich die Gerüchte nicht wiederhole, die ich gehört habe! Du musst dir auch denken können, was das für Gerüchte sind und warum ich sie dir ersparen will.«
»Que suecc’s?« Eine der neben ihnen schlafenden Dryaden schreckte von Rittersporns erhobener Stimme auf.
»Ich bitte um Entschuldigung«, sagte der Hexer leise. »Dich auch.«
Die grünen Laternen des Brokilon waren schon erloschen, nur ein paar glommen noch schwach.
»Geralt«, brach Rittersporn schließlich das Schweigen. »Du hast immer behauptet, dass du abseits stehst, dass dir alles egal ist ... Sie kann es geglaubt haben. Sie hat es geglaubt, als sie zusammen mit Vilgefortz dieses Spiel begann ...«
»Genug«, sagte Geralt. »Kein Wort mehr. Wenn ich das Wort ›Spiel‹ höre, habe ich Lust, jemanden totzuschlagen. Ach, gib das Rasiermesser her. Ich will mich endlich rasieren.«
»Jetzt? Es ist noch dunkel ...«
»Für mich ist es niemals
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