Die Zeit der Verachtung
dunkel. Ich bin ein Wundertier.«
Als der Hexer ihm den Beutel mit den Toilettengerätschaften aus der Hand riss und zum Fluss ging, stellte Rittersporn fest, dass seine Schläfrigkeit restlos verflogen war. Am heller werdenden Himmel deutete sich schon eine Spur des Morgengrauens an. Er stand auf, ging in den Wald, umging sorgfältig die schlafenden, aneinandergeschmiegten Dryaden.
»Hast du zu denen gehört, die ihren Anteil daran haben?«
Er wandte sich heftig um. Die an eine Föhre gelehnte Dryade hatte Haar von silberner Farbe, das war sogar im Halbdunkel der Dämmerung zu sehen.
»Ein ganz und gar widerwärtiger Anblick«, sagte sie und verschränkte die Arme vor der Brust. »Jemand, der alles verloren hat. Weißt du, Sänger, das ist merkwürdig. Seinerzeit glaubte ich, man könne nicht alles verlieren, etwas würde einem immer bleiben. Immer. Sogar in Zeiten der Verachtung, in denen sich Naivität auf besonders grausame Weise zu rächen vermag, könne man nicht alles verlieren. Aber er ... Er hat ein paar Quart Blut verloren, die Fähigkeit, richtig zu gehen, teilweise die Gewalt über die linke Hand, das Hexerschwert, die geliebte Frau, die auf wunderbare Weise erworbene Tochter, den Glauben ... Na, dachte ich, aber etwas, etwas muss ihm doch geblieben sein? Ich habe mich geirrt. Er hat nichts mehr. Nicht einmal ein Rasiermesser.«
Rittersporn schwieg. Die Dryade bewegte sich nicht.
»Ich habe gefragt, ob du einen Anteil daran hast«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Aber die Frage war wohl überflüssig. Es ist offensichtlich, dass du einen Anteil daran hast. Es ist offensichtlich, dass du sein Freund bist. Aber wenn man Freunde hat und trotzdem alles verliert, dann trifft die Freunde offensichtlich eine Schuld. An dem, was sie getan haben, beziehungsweise an dem, was sie nicht getan haben. Daran, dass sie nicht wussten, was sie zu tun hatten.«
»Und was konnte ich tun?«, flüsterte er. »Was konnte ich bewirken?«
»Ich weiß nicht«, antwortete die Dryade.
»Ich habe ihm nicht alles gesagt ...«
»Das weiß ich.«
»Ich bin nicht schuld.«
»Du bist es.«
»Nein! Ich bin nicht ...«
Er fuhr hoch, und die Zweige des Lagers knackten. Geralt saß neben ihm und rieb sich das Gesicht. Er roch nach Seife.
»Du bist nicht?«, fragte er kalt. »Interessant, was du geträumt haben magst. Dass du ein Frosch bist? Beruhige dich. Du bist keiner. Dass du ein Dummkopf bist? Na, in dem Fall könnte es ein prophetischer Traum gewesen sein.«
Rittersporn schaute sich um. Sie waren auf der Lichtung völlig allein.
»Wo ist ... wo sind sie?«
»Am Waldrand. Steh auf, es ist Zeit für dich.«
»Geralt, vor einem Augenblick habe ich mit einer Dryade gesprochen. Sie sprach die Gemeinsprache akzentfrei und sagte mir ...«
»Keine aus dieser Abteilung spricht die Gemeinsprache akzentfrei. Du hast geträumt, Rittersporn. Das ist der Brokilon. Hier kann man alles Mögliche träumen.«
Am Waldrand erwartete sie eine einzelne Dryade. Rittersporn erkannte sie sofort – es war die mit den grünlichen Haaren, die ihnen in der Nacht das Licht gebracht hatte und ihn zum Weitersingen bewegen wollte. Die Dryade hob die Hand und hieß sie stehenbleiben. In der anderen Hand hielt sie einen Bogen mit einem Pfeil auf der Sehne. Der Hexer legte dem Troubadour die Hand auf die Schulter und drückte fest zu.
»Ist hier etwas im Gange?«, flüsterte Rittersporn.
»Klar. Sei still und rühr dich nicht.«
Der dichte Nebel, der im Tal des Bandwassers lag, dämpfte Stimmen und Geräusche, doch nicht so stark, dass Rittersporn nicht das Plätschern von Wasser und das Wiehern von Pferden gehört hätte. Es kamen Reiter durch den Fluss.
»Elfen«, erriet er. »Scioa’tael? Sie fliehen in den Brokilon, nicht wahr? Ein ganzes Kommando ...«
»Nein«, murmelte Geralt, den Blick in den Nebel gerichtet. Der Dichter wusste, dass Sehvermögen und Gehör des Hexers unglaublich schnell und empfindlich waren, vermochte aber nicht einzuschätzen, welchen Sinn Geralt gerade benutzte. »Das ist kein Kommando. Das sind die Überbleibsel eines Kommandos. Fünf oder sechs Berittene, drei Handpferde. Bleib hier, Rittersporn. Ich gehe dorthin.«
»Gar’ean«, sagte die grünhaarige Dryade warnend und hob den Bogen. »N’te va, Gwynbleidd! Ki’rin!«
»Thaess aep, Fauve«, erwiderte der Hexer unerwartet scharf. »M’aespar que va’en, ell’ea? Bitte, schieß doch. Wenn nicht, dann halt den Mund und versuch
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