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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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daran. Doch damals hatte sie die Flasche weder losmachen noch mitnehmen können, sie hatte keine Zeit gehabt. Und jetzt war die Flasche nicht da. Nichts war jetzt da. Nichts außer den scharfen heißen Steinen, außer dem die Haut spannenden Grind an der Schläfe, außer dem Schmerz im Körper und der verkrampften Kehle, der sie nicht einmal dadurch Erleichterung verschaffen konnte, dass sie Speichel schluckte.
    Ich kann nicht hierbleiben. Ich muss gehen und Wasser finden. Wenn ich kein Wasser finde, sterbe ich.
    Sie versuchte aufzustehen, verletzte sich die Finger an dem steinernen Pilz. Sie stand auf. Tat einen Schritt. Und fiel stöhnend auf alle viere, von einem trockenen Brechreiz ergriffen. Krämpfe und Schwindel überfielen sie, so stark, dass sie wieder eine liegende Position einnehmen musste.
    Ich bin machtlos. Ich bin allein. Wieder. Alle haben mich verraten, verlassen, alleingelassen. So wie einst  ...
    Ciri fühlte, wie eine unsichtbare Zange ihr die Kehle zudrückte, wie sich schmerzhaft die Wangenmuskeln verkrampften, wie die aufgeplatzten Lippen zu zittern begannen. Es gibt keinen widerwärtigeren Anblick als eine weinende Zauberin, fielen ihr Yennefers Worte ein. Aber  ... aber hier sieht mich ja niemand  ... Niemand  ...
    Unter dem steinernen Pilz zusammengerollt, begann Ciri zu schluchzen, von einem trockenen, schrecklichen Weinen ergriffen. Einem Weinen ohne Tränen.
    Als sie die geschwollenen, sich widersetzenden Lider hob, stellte sie fest, dass die Hitze etwas erträglicher geworden war und der noch unlängst gelbe Himmel die ihm zustehende kobaltblaue Farbe angenommen hatte, sogar, o Wunder, von dünnen weißen Wolkenstreifen durchzogen war. Die Sonnenscheibe war rötlich geworden, tiefer gesunken, schoss aber nach wie vor Wogen sengender Hitze auf die Wüste herab. Oder kam sie vielleicht von den aufgeheizten Steinen?
    Sie setzte sich auf und stellte fest, dass der Schmerz im Schädel und in dem zerschlagenen Körper sie nicht mehr so sehr bedrückte. Dass er jetzt nicht mehr mit der saugenden Qual im Magen und dem grausamen, zum Husten zwingenden Brennen in der ausgetrockneten Kehle zu vergleichen war.
    Nicht unterkriegen lassen, dachte sie. Ich darf mich nicht unterkriegen lassen. So wie in Kaer Morhen muss ich aufstehen, Schmerz und Schwäche in mir überwinden, besiegen, abtöten. Ich muss aufstehen und gehen. Jetzt kenne ich wenigstens die Richtung. Wo jetzt die Sonne steht, ist Westen. Ich muss gehen, Wasser finden und etwas zu essen. Ich muss. Sonst komme ich um. Das ist die Wüste. Es hat mich in eine Wüste verschlagen. Das, wo ich im Möwenturm hineingegangen bin, war ein magisches Portal, eine Vorrichtung der Zauberer, mit deren Hilfe man sich über große Entfernungen fortbewegen kann  ...
    Das Portal im Tor Lara war sonderbar. Als sie auf das letzte Stockwerk gerannt kam, befand sich dort nichts, nicht einmal Fenster, nur die kahlen, von Pilz bedeckten Wände. Und auf einer der Wände war plötzlich ein regelmäßiges Oval erschienen, von einem opaleszierenden Lichtschein erfüllt. Sie hatte gezögert, doch das Portal zog sie an, rief sie, bat geradezu. Und einen anderen Ausweg gab es nicht, nur dieses leuchtende Oval. Sie hatte die Augen geschlossen und war hineingegangen.
    Und dann war da eine blendende Helle gewesen und ein rasender Wirbel, ein Wehen, das ihr den Atem nahm und die Rippen zusammenpresste. Sie erinnerte sich an einen Flug inmitten von Stille, Kälte und Leere, dann wieder ein Blitz und der Aufprall auf Luft. Über ihr war Bläue gewesen, unter ihr ein verwischtes Grau  ...
    Das Portal hatte sie im Fluge fallen lassen, wie ein Adlerjunges einen Fisch loslässt, der ihm zu schwer ist. Als sie auf den Steinen aufgeschlagen war, hatte sie das Bewusstsein verloren. Sie wusste nicht, für wie lange.
    Ich habe im Tempel von Portalen gelesen, erinnerte sie sich, während sie Sand aus den Haaren schüttelte. In den Büchern wurden Portale erwähnt, die verzerrt oder chaotisch sind, die einen wer weiß wohin tragen und wer weiß wo auswerfen. Das Portal im Möwenturm war sicherlich just so eins. Es hat mich irgendwo am Ende der Welt abgesetzt. Niemand weiß, wo. Niemand wird mich hier suchen und niemand mich finden. Wenn ich hierbleibe, sterbe ich.
    Sie stand auf. Indem sie alle Kräfte mobilisierte und sich an dem Felsen festhielt, tat sie den ersten Schritt. Dann den zweiten. Und den dritten.
    Diese ersten Schritte brachten ihr zu Bewusstsein, dass die

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