Die Zeit der Verachtung
hast du die Macht, räche dich!
Yennefers Lippen sind aufgesprungen, zerschlagen, sie bluten, an ihren Händen und Füßen sind Fesseln, schwere Ketten, an den nassen und schmutzigen Wänden des Kerkers befestigt. Das ums Schafott versammelte Volk johlt, der Dichter Rittersporn legt den Kopf auf den Block, die Schneide des Henkerbeils funkelt über ihm. Die unter dem Schafott versammelten Straßenjungen falten ein Tuch auf, um das Blut darin aufzufangen ... Das Gebrüll der Menge übertönt den Schlag, unter dem das Gerüst erzittert ...
Sie haben dich verraten! Belogen und betrogen! Alle! Du warst für sie eine Marionette, eine Puppe am Schnürchen! Sie haben dich ausgenutzt! Haben dich zum Hunger verurteilt, zu der sengenden Sonne, zum Durst, zur Heimatlosigkeit, zur Einsamkeit! Die Zeit der Verachtung und der Rache ist gekommen! Du hast die Kraft! Du bist mächtig! Die ganze Welt soll vor dir zittern! Die ganze Welt soll vor dem Älteren Blute zittern!
Aufs Schafott werden die Hexer geführt – Vesemir, Eskel, Coën, Lambert. Und Geralt ... Geralt wankt, ist blutüberströmt ...
»Nein!!!«
Rings um sie Feuer, hinter der Flammenwand ein wildes Wiehern, Einhörner bäumen sich auf, schütteln die Köpfe, schlagen mit den Hufen. Ihre Mähnen gleichen zerfetzten Kriegsbannern, ihre Hörner sind lang und scharf wie Schwerter. Die Einhörner sind groß, groß wie Schlachtrösser, viel größer als ihr Pferdchen. Wo kommen sie her? Wo kommen so viele von ihnen her? Die Flamme schießt fauchend empor. Die schwarzhaarige Frau hebt die Hände, an ihren Händen ist Blut. Ihre Haare verströmen Hitze.
Brenn, brenn, Falka!
»Fort! Geh weg! Ich will dich nicht! Ich will deine Macht nicht!«
Brenn, Falka!
»Ich will nicht!«
Du willst! Dich verlangt danach! Verlangen und Gier brennen in dir wie eine Flamme, die Lust hält dich gefangen! Das ist Macht, das ist Kraft, das ist Herrschaft! Die höchste Lust der Welt!
Ein Blitz. Donnern. Wind. Hufschlag und Wiehern der um das Feuer rasenden Einhörner.
»Ich will diese Kraft nicht! Ich will sie nicht! Ich entsage ihr!«
Sie wusste nicht, ob das Feuer verloschen oder ihr schwarz vor Augen geworden war. Sie fiel hin und spürte auf dem Gesicht die ersten Regentropfen.
Dem Wesen muss die Existenz genommen werden. Man darf nicht zulassen, dass es existiert. Das Wesen ist gefährlich. Bestätigung.
Widerspruch. Das Wesen hat die
Kraft
nicht für sich selbst herbeigerufen. Es hat es getan, um Ihuarraquax zu retten. Das Wesen hat Mitleid. Dank dem Wesen ist Ihuarraquax wieder unter uns.
Aber das Wesen hat die
Kraft
. Wenn es sie eines Tages gebrauchen will
...
Es wird sie nicht gebrauchen können. Niemals. Es hat ihr entsagt. Vollends. Die
Kraft
ist verschwunden. Das ist sehr seltsam
...
Wir werden die Wesen niemals verstehen.
Und wir brauchen sie nicht zu verstehen! Lasst uns dem Wesen die Existenz nehmen. Ehe es zu spät ist. Bestätigung.
Widerspruch. Wir wollen hier fortgehen. Das Wesen lassen wir zurück. Wir überlassen es seiner Vorherbestimmung.
Sie wusste nicht, wie lange sie auf den Steinen gelegen hatte, zitternd, den Blick gen Himmel gerichtet, der seine Farben wechselte. Es war abwechselnd dunkel und hell, kalt und heiß, sie aber lag da, kraftlos, ausgetrocknet und leer wie jener Balg, jener Kadaver des Nagetiers, der ausgesaugt und aus dem Trichter geworfen worden war.
Sie dachte an nichts. Sie war einsam, sie war leer. Sie hatte nichts mehr und fühlte in sich nichts. Da war kein Durst, kein Hunger, keine Erschöpfung, keine Furcht. Alles war verschwunden, sogar der Wille zu überleben. Da war nur eine große, kalte, entsetzliche Leere. Sie empfand diese Leere mit ihrem ganzen Sein, mit jeder Zelle ihres Organismus.
Sie fühlte Blut an der Innenseite ihrer Schenkel. Es war ihr gleichgültig. Sie war leer. Sie hatte alles verloren.
Der Himmel wechselte seine Farben. Sie bewegte sich nicht. Hatte es denn in der Wüste irgendeinen Sinn, sich zu bewegen?
Sie bewegte sich nicht, als in ihrer Nähe Hufschlag erklang, Hufeisen klirrten. Sie reagierte nicht auf die lauten Rufe, auf die erhobenen Stimmen, auf das Schnauben der Pferde. Sie bewegte sich nicht, als harte, starke Hände sie ergriffen. Als man sie aufhob, hing sie schlaff herab. Sie reagierte nicht, als man an ihr zerrte und sie schüttelte, nicht auf die scharfen, heftigen Fragen. Sie verstand sie nicht und wollte sie nicht verstehen.
Sie war leer und
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