Die Zeit der Verachtung
Lichtwogen berührten den verletzten Schenkel des Einhorns, sammelten sich, drangen ein.
»Ich will, dass du gesund bist! Ich will es! Vess’hael, Aenye!«
Die
Kraft
explodierte in ihr, erfüllte sie mit wilder Euphorie. Das Feuer schoss empor, ringsum wurde es heller. Das Einhorn hob den Kopf, wieherte, sprang dann plötzlich auf, tat ungeschickt ein paar Schritte. Es streckte den Hals aus, berührte mit der Schnauze den Schenkel, bewegte die Nüstern, schnaubte – wie ungläubig. Es wieherte laut und anhaltend, bäumte sich auf, schlug mit dem Schweif und lief im Galopp ums Feuer.
»Ich habe dich geheilt!«, schrie Ciri stolz. »Geheilt! Ich bin eine Zauberin! Es ist mir gelungen,
Kraft
aus dem Feuer zu schöpfen! Ich habe diese
Kraft
! Ich kann alles!«
Sie wandte sich um. Das Feuer prasselte, versprühte Funken.
»Wir brauchen keine Quellen mehr zu suchen! Wir brauchen keinen ausgegrabenen Morast mehr zu trinken! Ich habe jetzt Kraft! Ich spüre die Kraft, die in diesem Feuer ist! Ich werde bewirken, dass es in dieser verfluchten Wüste regnet! Dass Wasser aus den Felsen springt! Dass hier Blumen wachsen! Gras! Kohlrabi! Ich kann jetzt alles! Alles!«
Mit einer heftigen Bewegung hob sie beide Hände, rief Sprüche und skandierte Beschwörungen. Sie verstand sie nicht, erinnerte sich nicht, wann sie sie gelernt und ob sie sie jemals angewandt hatte. Es hatte keine Bedeutung. Sie spürte Macht, spürte Kraft, brannte wie das Feuer. Sie war das Feuer. Sie zitterte vor Kraft, die sie durchdrang.
Den Nachthimmel durchschnitt plötzlich das Band eines Blitzes, zwischen Steinen und Pflanzen heulte ein Windstoß auf. Das Einhorn wieherte durchdringend und bäumte sich auf. Das Feuer schoss empor, explodierte. Die gesammelten Stengel und Blätter waren längst verbrannt, jetzt brannte der Fels selbst. Doch Ciri beachtete das nicht. Sie spürte die Kraft. Sie sah nur das Feuer. Sie hörte nur das Feuer.
Du kannst alles, flüsterten die Flammen, du hast dir unsere Kraft angeeignet, du kannst alles. Die Welt liegt dir zu Füßen. Du bist groß. Du bist mächtig.
Zwischen den Flammen eine Gestalt. Eine hochgewachsene junge Frau mit langen, glatten pechschwarzen Haaren. Die Frau lacht, wild, grausam, das Feuer umtost sie.
Du bist mächtig! Die dir ein Leid zugefügt haben, wussten nicht, mit wem sie sich anlegen! Räche dich! Zahl es ihnen heim! Zahl es allen heim! Sie sollen vor Angst zu deinen Füßen zittern, sie sollen mit den Zähnen klappern, sie sollen es nicht wagen, aufzublicken zu deinem Gesicht! Es soll ihnen leidtun! Du aber sollst kein Mitleid kennen! Zahl es ihnen heim! Zahl allen alles heim! Rache!
Hinter dem Rücken der Schwarzhaarigen Feuer und Rauch, im Rauche Reihen von Galgen, von Pfählen, Schafotte und Gerüste, Berge von Leichen. Das sind die Leichen der Nilfgaarder, derer, die Cintra erobert und geplündert haben, die König Eist und ihre Großmutter Calanthe erschlagen, die Menschen auf den Straßen der Stadt ermordet haben. Am Galgen baumelt ein Ritter in schwarzer Rüstung, der Strick knirscht, ringsum drängen sich Raben, die versuchen, ihm durchs Visier des geflügelten Helms die Augen auszuhacken. Weitere Galgen ziehen sich bis zum Horizont hin, daran hängen die Scioa’tael, diejenigen, die in Kaedwen Paulie Dahlberg umgebracht haben, diejenigen, die sie auf der Insel Thanedd verfolgten. Auf einem hohen Pfahl zuckt der Zauberer Vilgefortz, sein schönes, täuschend edles Gesicht ist verzerrt und blauschwarz vor Qual, das spitze und blutige Ende des Pfahls ragt ihm am Schlüsselbein heraus ... Die anderen Zauberer von Thanedd knien am Boden, ihre Hände sind hinterm Rücken gefesselt, und die angespitzten Pfähle warten schon ...
Die mit Reisighaufen umgebenen Pfähle ziehen sich bis zum flammenden, von Rauchsäulen gezeichneten Horizont hin. Am nächsten Pfahl, mit Ketten festgemacht, steht Triss Merigold ... Weiter Margarita Laux-Antille ... Mutter Nenneke ... Jarre ... Fabio Sachs ...
Nein. Nein. Nein.
Doch, schreit die Schwarzhaarige, Tod allen, zahl es ihnen allen heim, verachte sie alle! Sie alle haben dich gekränkt oder wollten dich kränken! Vielleicht werden sie dich eines Tages kränken wollen! Verachte sie, denn die Zeit der Verachtung ist gekommen! Verachtung, Rache und Tod! Tod der ganzen Welt! Tod, Vernichtung und Blut!
Blut an deinen Händen, Blut dort überall
...
Sie haben dich verraten! Dich getäuscht! Dich gekränkt! Jetzt
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