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Die Zeit der Verachtung

Die Zeit der Verachtung

Titel: Die Zeit der Verachtung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrzej Sapkowski
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verfehlendes Ziel abgab. Vor seinem geistigen Auge sah er schon die sich biegenden Wurfarme der Bögen, die sich spannenden Sehnen und die Spitzen der auf ihn gerichteten Pfeile.
    Er drückte die Waden gegen die Flanken des Pferdes, doch Pegasus scherte sich nicht um ihn. Statt schneller zu gehen, blieb er stehen und hob den Schwanz. Die Äpfel platschten ins Wasser. Rittersporn stieß einen langen Seufzer aus.
    »Der Held«, murmelte er und kniff die Augen zusammen, »vermochte die tosenden Wasser nicht zu bezwingen. Er starb den Tod der Tapferen, von vielen Geschossen durchbohrt. Auf ewig verschlang ihn die blaue Tiefe, es schloss ihn das Wassermoos in seine Arme, grün wie Nephrit. Und keine Spur blieb von ihm, nur die Pferdescheiße, die die Strömung zum fernen Meere trug  ...«
    Pegasus, dem anscheinend leichter war, ging nun von selbst zügiger aufs Ufer zu, und in einem Strudel kurz davor, wo das Wasser frei von Pflanzen war, erlaubte er sich sogar, hinten auszuschlagen, womit er Rittersporns Stiefel und Hose gründlich nass machte. Der Dichter bemerkte es nicht einmal – die Vision von den auf seinen Bauch gerichteten Pfeilen verließ ihn keinen Augenblick lang, und das Entsetzen kroch ihm über Rücken und Genick wie ein großer, kalter und glitschiger Blutegel. Denn hinter den Erlen, keine hundert Schritt jenseits des saftig grünen Gürtels von Ufergräsern, erhob sich über dem Gestrüpp die senkrechte, schwarze, bedrohliche Wand des Waldes.
    Der Brokilon.
    Am Ufer, ein paar Schritte stromab, lag weiß ein Pferdeskelett. Brennnesseln und Röhricht sprossen durch den Brustkorb. Es lagen dort auch ein paar andere, kleinere Knochen, die nicht wie Pferdeknochen aussahen. Rittersporn zuckte zusammen und wandte den Blick ab.
    Vorangetrieben, stieg der Wallach mit Schmatzen und Platschen aus dem Schlammstreifen am Ufer, der Morast begann widerwärtig zu stinken. Die Frösche unterbrachen für einen Moment ihr Konzert. Es wurde sehr still. Rittersporn schloss die Augen. Er deklamierte nicht mehr, improvisierte nicht. Inspiration und Phantasie hatten sich irgendwo in unbekannte Ferne verflüchtigt. Geblieben war nur die kalte, abscheuliche Angst, eine starke Empfindung, aber ganz ohne schöpferische Impulse.
    Pegasus spitzte die hängenden Ohren und trottete gleichgültig auf den Wald der Dryaden zu. Den viele den Wald des Todes nannten.
    Ich habe die Grenze überschritten, dachte der Dichter. Jetzt entscheidet sich alles. Solange ich am Fluss war und im Wasser, konnten sie großzügig sein. Aber jetzt nicht mehr. Jetzt bin ich ein Eindringling. Wie jener andere  ... Von mir bleibt vielleicht auch nur ein Skelett übrig  ... eine Warnung für die Nachfolgenden  ... Wenn hier Dryaden sind  ... Wenn sie mich beobachten  ...
    Er erinnerte sich an Bogenturniere, die er gesehen hatte, an Wettbewerbe auf Jahrmärkten und Schützenfesten, an Schießscheiben aus Stroh und an Puppen, mit Pfeilen gespickt und von den Spitzen zerrissen. Was fühlt ein Mensch, der von einem Pfeil getroffen wird? Den Aufprall? Schmerz? Oder vielleicht  ... nichts?
    Es gab keine Dryaden in der Gegend, oder sie hatten noch nicht entschieden, was sie in Hinblick auf den einsamen Reiter unternehmen sollten, denn der Dichter ritt weiter, halb tot vor Angst und doch lebendig, heil und gesund. Den Zugang zu den Bäumen versperrte ein mit Gestrüpp zugewachsenes, mit Wurzeln und Ästen gespicktes Durcheinander von Windbruch, doch Rittersporn hatte ohnehin nicht im mindesten vor, bis an den Rand des Waldes oder gar hineinzureiten. Er konnte sich zwingen, etwas zu riskieren – aber nicht, Selbstmord zu begehen.
    Er stieg sehr langsam ab, band die Zügel an einer emporragenden Wurzel fest. Für gewöhnlich tat er das nicht – Pegasus pflegte sich von seinem Besitzer nicht zu entfernen. Rittersporn war sich jedoch nicht sicher, wie das Pferd auf das Pfeifen und Sausen von Pfeilen reagieren würde. Bisher hatte weder er selbst noch Pegasus sich mit derlei Geräuschen vertraut gemacht.
    Er nahm die Laute vom Sattelbogen, ein einzigartiges, hochklassiges Instrument mit schlankem Hals. Das Geschenk einer Elfe, dachte er, während er das intarsienverzierte Holz betrachtete. Kann sein, dass die Laute zum Älteren Volk zurückkehrt  ... Wenn die Dryaden sie nicht bei meiner Leiche liegenlassen  ...
    In der Nähe lag ein bejahrter, vom Sturm gefällter Baum. Der Dichter setzte sich auf den Stamm, stützte die Laute aufs Knie, leckte sich

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