Die Zeit des Boesen
Nährboden für Fanatismus. Aber zu diesem wollte Neruda sich nicht bekennen. Er glaubte immer noch, daß der König und seine Vasallen auf dem Verhandlungsweg zum Einlenken gebracht werden konnten. Und auch wenn es während der hitzig geführten Dispute nicht immer so deutlich wurde: Seine Meinung hatte Gewicht in der Runde, und gerade deshalb nahmen es ihm viele übel, sich nicht offen zu einer notfalls auch gewaltsamen Konfrontation mit den Königstreuen zu bekennen ...
»Mit deinem Zögern machst du dich doch nur zu ihrem Handlanger!« mußte er sich sagen lassen.
Es war noch das Harmloseste, was man ihm an den Kopf warf.
Diejenigen, die selbst noch zauderten, schwiegen. Sie hatten weder genügend Courage, Neruda demonstrativ beizustehen, noch sich unmißverständlich auf die Seite der einen oder anderen Partei zu schlagen.
»Wenn war jetzt nachgeben und uns dieses verbriefte Recht nehmen lassen«, sagte einer der anderen Sprecher gerade, »werden sie uns auch noch andere Rechte beschneiden!«
Mit »sie« meinte er König und Statthalter.
»Das darf nicht geschehen!«
»Niemals!«
Wieder gingen die Rufe kreuz und quer.
Plötzlich stand Neruda auf, und sofort wurde es still, weil man offenbar zunächst glaubte, er wollte sich Gehör für eine Rede verschaffen. Doch er hob nur grüßend die Hand, knöpfte sein Wams vor der Brust zu und wandte sich zur Tür.
»Du willst gehen? Jetzt?«
»Frische Luft schnappen, ja. Und dasselbe rate ich jedem von euch, bevor ihr uns hier alle um Kopf und Kragen redet!« Mit diesen Worten entriegelte er die von innen verschlossene Tür und ging nach draußen.
Ein paar empörte Rufe folgten ihm. Doch schon bald verfiel die Kulisse wieder in ihr unterbrochenes Fahrwasser zurück. Heftig wurde das Für und Wider eines Marsches zur Burg erörtert, um dem berechtigten Begehren Nachdruck zu verleihen.
Indes lenkte Hieronymus Neruda seine Schritte bereits über das naßschimmernde Pflaster der Zeltnergasse, in Sichtweite des Hauses Zu den drei Königen, dessen hölzerner Dachstuhl noch aus dem 14. Jahrhunderts erhalten geblieben war.
Neruda kannte alle verborgenen Schätze der Stadt, in der er geboren war und die er liebte. Und genau deshalb wollte er nicht zulassen, daß sie wegen der fast schon traditionellen Eifersüchteleien zwischen Katholiken und Protestanten zu irreparablem Schaden kam. Ein Aufstand konnte nicht nur ans Leben Einzelner gehen, sondern auch Kleinode architektonischer Kunst unwiederbringlich vernichten. Brände waren schnell gelegt .
Schon nach wenigen Schritten änderte er plötzlich seinen Entschluß und entschied, an diesem Abend nicht mehr in die hitzige Diskussion einzugreifen. Die Sonne war hinter den Dächern versunken, und kühle Luft umfächelte Nerudas rosiges Gesicht.
So lenkte er seine Schritte heimwärts.
Vielleicht, so rechtfertigte er sein Verhalten, brachte gerade sein Fernbleiben den ein oder anderen doch noch zur Besinnung. Eine kühne Hoffnung .
Neruda wohnte in einem Haus in der Nähe des Pulverturms, an der Grenze zwischen Alt- und Neustadt. Zu dem Haus gehörten ein Garten und ein Stall, in dem er neben Hühnern auch ein paar Ziegen hielt. Eine davon war hochträchtig, und fast gewohnheitsmäßig lenkte Neruda seine Schritte mehrmals am Tag in den kleinen Verschlag, um nachzusehen, ob sie schon geworfen hatte.
Es war dunkel, als er heimkam. Um auf andere Gedanken zu kommen, entzündete er eine Lampe und suchte den Stall auf.
Außer dem leisen Gegacker der Hühner, die schon auf ihren Stangen saßen, und ab und zu einem Scharren war kaum ein Laut zu hören, als Neruda durch das Holztor eintrat und den Schein der Lampe vor sich hertrug.
Ohne sich anderweitig aufzuhalten, ging er schnurstracks zu der mit Heu ausgestreuten Box, in der das trächtige Muttertier gesondert untergebracht war, bis es sich seiner Last entledigt hatte.
Im Näherkommen blickte er direkt in die Augen der Ziege.
Neruda war tief gerührt von dem Gefühl, das er darin zu entdecken meinte. Vielleicht, so glaubte er, fühlte dieses Wesen, daß er sich Viehzeug nicht nur zum Schlachten und Verspeisen hielt, sondern ganz einfach auch die Gesellschaft von Tieren mochte.
Neruda war unverheiratet, seine Eltern lebten schon viele Jahre nicht mehr, und irgendwie fand er auch keinen rechten Zugang zu den Weibsleuten, so daß er in stillen Stunden durchaus unentschie-den war, ob er unter seinem Alleinsein leiden oder nicht doch ganz froh darüber sein sollte. Eine Ehe
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