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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Kopp
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ihn.
    Anfangs hatten Sandra und ich noch offiziell um Erlaubnis gefragt, ob wir über das Wochenende in der Stadt bleiben dürften. Nachdem wir aber einmal in Jakobs Wohnung eine heftige Party gefeiert hatten, hatte sich diese Frage schnell erübrigt. Aber wir mussten nur lange genug warten, irgendwann verloren die beiden die Geduld – und fuhren ohne uns. Ich schwankte zwischen der Freude über die sturmfreie Bude und dem Entsetzen darüber, dass die beiden ihr Ding einfach durchzogen. Wieder ein Beleg dafür, dass ich nicht wichtig war, dass es egal war, ob es mich gab oder nicht.
    Jakob zog einige Monate später bei uns ein, meine Mutter und er heirateten im Sommer 1992.
    Ich war fünfzehn damals und seit einem halben Jahr mit meiner ersten großen Liebe zusammen. Thorsten war vierundzwanzig, er arbeitete im Schlachthof und jobbte nebenher im Flex. Mit dem Besitzer der Kneipe war er eng befreundet. Ich war über beide Ohren verliebt und fühlte mich wahnsinnig erwachsen. Ich mochte seine Nähe, seinen Geruch, seine Stimme, einfach alles. Er gab mir das Gefühl, toll und etwas wert zu sein. Kennengelernt hatten wir uns Ende 1991 im Admira Center in Leipzig – an einem jener Wochenenden, an denen ich allein in der Stadt geblieben und abends in die Disko gegangen war. Bevor er mich nach Hause fuhr, hockten wir stundenlang bei McDonald’s und redeten. Von da an trafen wir uns regelmäßig. Thorsten hatte eine eigene Wohnung in Grünau, jener Plattenbausiedlung am Rande Leipzigs. Immer sturmfreie Bude, keiner, der einem vorschrieb, wann man ins Bett oder mit welchen Klamotten man aus dem Haus zu gehen hatte. Das war es, was für mich zählte, es war mir egal, dass die Einraumwohnung winzig war. Ein Badezimmer mit Wanne, eine kleine Küchenzeile im Wohnzimmer und eine fensterlose Nische, in der ein Doppelbett stand. Die großen Fenster ließen so viel Licht herein, dass der Wohnraum größer wirkte, nur die Wände, fand ich, wirkten sehr kahl. Kein Bild, kein Poster, kein Foto, das für etwas Farbe gesorgt hätte. Sandy und ich dagegen hatten jeden Zentimeter Wand in unserem Zimmer ausgenutzt, selbst innen an die Tür des Kleiderschranks hatte ich ein Poster geklebt: Jean-Claude Van Damme mit nacktem Oberkörper, den fand ich damals richtig gut.
    Wenn ich nicht bei Thorsten war, verbrachte ich meine Zeit meistens mit Lea. Sandra hatte mich einmal mitgenommen und ihrer Clique vorgestellt; Lea war mir sofort aufgefallen. Sie war jünger als die anderen, gerade mal dreizehn Jahre alt, schlank, etwas kleiner als ich und hatte wunderschöne, dichte und leicht gewellte Haare. Kein Vergleich zu meinen dünnen Flusen, die so fein waren, dass mir jeder Haargummi herunterrutschte. Während ich eher schüchtern war, wirkte sie sehr selbstbewusst, sie war witzig, manchmal auch vorlaut und frech. Wir ergänzten uns ganz gut, vom ersten Moment an war eine tiefe Vertrautheit da.
    Weil wir nicht auf die gleiche Schule gingen, verabredeten wir uns zum Schwänzen. Wir trafen uns in der Stadt, hin und wieder auch zu Hause, wenn die Eltern in der Arbeit waren. Ich weiß noch, dass ich einmal extra zwei Flaschen Sekt beim Kiosk in der Nachbarschaft gekauft habe, dazu eine Flasche Ananassaft. Diesen »Cocktail« wollten Lea und ich gemeinsam mit ein paar anderen Freundinnen bei uns zu Hause trinken. Kaum, dass ich den Schlüssel ins Schloss gesteckt hatte, kam Sandra auf mich zu.
    »Hast du den Sekt gekauft?«
    »Das geht dich gar nichts an.« Wollte sie mir jetzt Vorhaltungen machen, oder was sollte die Frage?
    »War ’ne blöde Idee von dir … Komm mal mit.«
    In der Küche saß unsere Mutter, völlig hinüber. Auf dem Tisch vor ihr standen die Sektflaschen. Meine Sektflaschen. Gemeinsam zerrten wir sie zum Waschbecken, hielten ihren Kopf unter den Hahn und drehten das Wasser auf. Eiskalt. So, wie sie das auch schon mit mir gemacht hatte. Ich ärgerte mich zwar über den geplatzten Nachmittag mit meinen Freundinnen, empfand aber auch eine gewisse Genugtuung.
    *
    Zu Hause war mal wieder dicke Luft, meine Mutter und ich schrien uns nur noch an. Die Situation eskalierte völlig, als sich Jakob einmischte, um zu schlichten. Das brauchte ich jetzt grade noch! Ich wollte nur noch raus, weg, zu Thorsten oder irgendwohin, wo man mir zuhörte und mich ernst nahm. Wütend griff ich meine Jacke von der Garderobe und stürmte zur Wohnungstür. Jakob stellte sich mir in den Weg. »Was soll das denn jetzt? Spinnst du?« Als er mich am Arm packte,

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