Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Dummheit.
Als ich am nächsten Morgen die Augen öffnete, sah ich Neonleuchten an der Decke über mir hängen. Ein stechend weiß gestrichener Raum mit einer Glastür, auf die ein paar Buchstaben geklebt waren. Spiegelverkehrt. V-I-S-N-E-T-N-I. Was war das denn jetzt? Wo war ich überhaupt? Und was sollte diese blöde Kanüle, die in meiner Armbeuge hing und bei jeder Bewegung piekste? Aha. Da hing was dran, ein Tropf. Und wieso war mein rechtes Handgelenk verbunden?
Nur langsam kamen die Erinnerungen an den vergangenen Abend zurück.
Auf dem Klo hatte ich versucht, mir mit einem zerbrochenen Glas die Pulsadern aufzuschneiden. Hatte meine Jacke an der Garderobe abgeholt und war an Erik vorbei ins Freie getaumelt. Er hatte mir noch irgendetwas hinterhergerufen. Ein paar Meter weiter war ich gestolpert, eine Baustelle, die ich im Dunkeln nicht gesehen hatte. Ich fiel auf einen Sandhaufen und blieb liegen. Was danach geschah, weiß ich nur aus Erzählungen. Erik musste meinen Sturz gesehen haben; gemeinsam mit einem Kollegen hatte er mich in den Vorraum zurückgetragen und den Rettungswagen gerufen. So war ich hier gelandet.
Ich wandte den Blick von den Neonröhren an der Decke ab und sah mich um. Ein Klinikbett mit hellgelber Bettwäsche. Ein kleiner Tisch mit Stuhl, an der Wand zwei Haken. In der Luft hing der typische Krankenhausgeruch, eine Mischung aus Urin und Desinfektionsmittel. Links neben meinem stand ein zweites Bett, in dem ein Mädchen lag. Als ich sie ansah, fing sie an zu schreien. Die Augen weit aufgerissen, die Augäpfel merkwürdig nach oben verdreht, brüllte sie und wollte überhaupt nicht mehr aufhören. Wieso kam denn keine Schwester? Kann die dumme Kuh nicht endlich den Mund halten! Völlig irre ist die doch. Erst jetzt sah ich, dass die Arme des Mädchens mit Riemen am Bett festgeschnallt waren. Wo verdammt noch mal war ich hier? Und wieso gab es an der Tür keine Klinke?
Das war kein normales Krankenhaus.
Raus. Ich musste hier raus. Ich riss mir die Kanüle aus dem Arm und sprang aus dem Bett. Das Fenster ließ sich nicht öffnen. Ich stolperte zur Tür. Der Mechanismus ließ sich von innen nicht bedienen. Die haben mich eingesperrt. Ich hieb mit der Hand an die Glasscheibe. Halt endlich die Schnauze, hör auf zu schreien.
Das passte ja wirklich prima. Dein Freund hat ’ne andere, und du sitzt hier in der Klinik. Suizidversuch nach exzessivem Alkoholkonsum. Eingesperrt mit einer Irren. Jetzt hatte ich endgültig einen Stempel weg. Notorische Ausreißerin, Schulschwänzerin und jetzt auch noch in der Anstalt gelandet.
Ich hämmerte immer noch gegen die verdammte Tür. Nach einer Ewigkeit kam ein Pfleger den Gang entlang. Na endlich.
Als er die Tür öffnete, wollte ich an ihm vorbei aus dem Zimmer schlüpfen. Aber er griff mich am Arm, drückte so fest auf mein Handgelenk, dass mir für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Er lockerte den Griff etwas, packte mich an der Schulter und schob mich zurück Richtung Bett. Nun wurde ich hysterisch. Das andere Mädchen und ich, wir schrien nun beide um die Wette.
»Ruhig, ganz ruhig, leg dich ins Bett, dann passiert auch nichts.«
Er redete auf mich ein wie auf einen kranken Gaul. Meinte, das sei ganz normal, dass ich jetzt hier sei, alles nur zu meinem Besten. Ich befände mich im Bezirkskrankenhaus Leipzig-Dösen, Abteilung Kinder- und Jugendpsychiatrie. Eine Vorsichtsmaßnahme, mehr nicht, und wenn ich mich kooperativ zeigte, dürfte ich bald nach Hause. Ein Therapeut würde nachher kommen und mit mir darüber reden, warum ich mein Leben hatte »wegwerfen« wollen. »Du bist doch noch so jung! Das wird schon wieder, Mädchen.«
Was wusste der schon! Thorsten hatte mich weggeworfen. Meine große Liebe. Strohkopf, Strohkopf, hahaha! Die Worte rauschten in meinen Ohren, es tat weh. Das bisschen Selbstachtung in mir hielt dagegen: Er ist es nicht wert. Ein Schwein, das dich bei der erstbesten Gelegenheit sitzenlässt. Die Worte des Pflegers klangen dumpf, wie aus weiter Ferne: »… und wenn der Psychologe dann … er will dir helfen, weißt du, und dann können … dich abholen.«
Wer soll mich abholen? Meine Eltern? Na, das würde ein Spaß werden. Schande! Du hast Schande über dich und uns gebracht! Wie kannst du dein Leben, das dir von Gott gegeben ist, wegwerfen? Das ist Sünde, Mandy, Sünde.
Nachdem der Pfleger weg war, fiel ich wie ein Kartenhaus in mir zusammen. Ich lag reglos im Bett, heulte und fühlte mich unsagbar einsam.
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