Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Du bist ein Nichts. Nein. Hör auf. Alles wird gut. Du bist stark, du schaffst das. Sie wird dich strafen dafür, dass du ihr das angetan hast. Na und? Die soll sich erst mal auf die Reihe kriegen, bevor sie mir Vorhaltungen macht. Aber sie hat ja recht. Nein, hat sie nicht, ich weiß selbst, was gut für mich ist. Eben nicht. Sonst wärst du nicht auf diesen Typen reingefallen.
So ging das stundenlang. Ich war ein Kind, das in den Arm genommen werden wollte. Und gleichzeitig hätte ich jede Hand, die sich mir entgegenstreckte, weggeschlagen. So verletzt und gedemütigt. Beim ersten Schritt nach draußen, beim ersten Versuch, erwachsen zu sein und eigene Entscheidungen zu treffen, schon auf die Fresse geflogen. Großartig, wirklich. Mist gebaut, mit Ansage.
Das Gespräch mit dem Therapeuten war zäh. Ich bockte, während ich im Inneren so klein war wie selten in meinem Leben. Papa. Wenn Papa jetzt da wäre, der hätte Thorsten die Leviten gelesen, der hätte ihm gezeigt, dass er so was mit mir nicht machen konnte.
Stattdessen kam meine Mutter mit Jakob. Vorwurfsvoller Blick, kühle Distanz. Sie hätte mich hier schmoren lassen, bis ich alt und grau bin. Genau das sagte sie hinterher im Auto auch zu mir. »Die hätten dich da wenigstens mal auf Spur gebracht! Von uns lässt du dir ja nichts mehr sagen. Da siehst du mal, wohin du damit kommst.« Jakob hatte das Gespräch mit der Klinikleitung geführt und die Ärzte davon überzeugt, mich gehen zu lassen. Auf eigene Verantwortung und mit der Auflage, dass ich regelmäßig einen Psychologen konsultieren sollte.
Aber dazu kam es erst gar nicht. Nach meiner Rückkehr bekam ich erst mal Hausarrest. Die Stimmung war am Boden. Meine Mutter hatte kaum noch ein liebes Wort für mich, sie strafte mich mit Verachtung. Was diese Zeit mit ihr gemacht hat, dafür hatte ich damals keinen Blick. Dass ihre Nerven blank lagen, dass sie sich Sorgen machte, mir das aber nicht zeigen konnte, dass sie ihre Hilflosigkeit hinter Härte versteckte – all das habe ich nicht gesehen. Ich fühlte mich nur missverstanden und abgelehnt. Und war mehr denn je überzeugt davon, dass es besser für alle wäre, wenn ich nicht mehr da wäre. Ein Störfaktor, der wegmusste.
Die Gelegenheit abzuhauen kam schnell. Wir hatten einen Riesenstreit gehabt, die Türen waren geflogen, Jakob hatte zu schlichten versucht, das Weichei. Meine Mutter hatte geheult, ich war nur noch voller Wut. »Ihr wollt mich einfach nicht verstehen, ihr Spießer, ihr könnt mich hier nicht einsperren, versucht’s doch!!« Dann war ich an ihnen vorbei und hinaus aus der Wohnung gestürmt.
Im Treppenhaus hielt ich inne und lauschte.
Nichts, nur der Fernseher dröhnte aus der Wohnung nebenan.
Warum kam niemand hinter mir her? Warum hielten sie mich nicht auf? Gleich wirst du die Tür hören, und sie wird mit zitternder Stimme rufen: »Kind, ich hab’s nicht so gemeint.«
Vielleicht sollte ich zurückgehen und mich entschuldigen?
Du spinnst doch. Sie hat dich aus dem Haus getrieben, sie ist schuld, jetzt muss sie damit klarkommen, dass du weg bist. Interessiert doch eh keinen. Genau. Geh einfach. Werden schon sehen, was sie davon haben.
Nach dem muffigen Treppenhaus, in dem immer Essensgerüche und kalter Rauch hingen, war die Luft draußen schneidend klar. Ich hätte die dickere Jacke anziehen sollen. Und? Wohin jetzt?
Ziellos lief ich durch die Straßen. Ich könnte bei Lea vorbeischauen, bei der war momentan auch immer dicke Luft. Ihre Mutter hatte einen neuen Freund, der ihr das Leben ziemlich schwermachte. Vielleicht war sie ja trotzdem zu Hause, und wir könnten eine Runde um den Block machen.
Lea freute sich riesig, mich zu sehen. Wir zogen gemeinsam durch die Stadt, schlenderten durch Einkaufspassagen, gingen in Boutiquen und probierten Sachen an, die wir uns nicht leisten konnten. Lea hatte sich gerade in ein enges Oberteil gezwängt, in dem sie einfach toll aussah. Der Blick auf das Preisschild ließ nur eine Möglichkeit zu. Sollen wir? Mutprobe, was sonst! Wir inspizierten das Teil, außer dem Preis war nichts weiter dran, kein Summer, nichts. Lea ließ es an, zog ihren Pulli darüber, und los ging es. Das Gefühl danach war großartig. Wir hatten’s drauf, die anderen waren einfach nur doof. Wir fühlten uns frei, unabhängig, die Regeln der Spießer galten für uns nicht, es war ein Kinderspiel, sie zu umgehen.
Am Abend trafen wir uns mit Freunden aus der Clique und betranken uns. Das Leben war schön,
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