Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
sein. Es liegt nur an dir! Ich hoffe, das weißt du.«
Vielleicht hatte er ja recht? Vielleicht hatten sie alle recht? Meine Mutter, Jakob, meine Schwester, die Lehrer in der Schule. »Wenn du nicht ständig schwänzen würdest, dann müssten wir dir jetzt keinen Verweis geben!«
Mag ja alles sein. Aber nicht jeder Ausreißer hat den Berufswunsch Prostituierte. Genau als solche wurden wir aber vor Gericht bezeichnet. In den Vernehmungsprotokollen haben alle Mädchen vom Jasmin klar geschildert, dass wir gewaltsam am Verlassen der Wohnung gehindert, wiederholt von Kugler geschlagen und vergewaltigt wurden. Dass wir von Montag bis Freitag von 14 bis 3 Uhr nachts Freier zu bedienen hatten, an den Wochenenden von 16 bis 3 Uhr. Und dass wir, wenn wir nicht spurten, von Kugler und seinen Leuten misshandelt wurden.
Im Urteil gegen Kugler stehen Sätze wie: Später entschloss sich der Angeklagte, weiteren weiblichen Personen die Wohnung zur Ausübung der Prostitution zur Verfügung zu stellen. … Die beim Angeklagten tätigen Mädchen im Alter von 13 bis 18 Jahren gingen zum großen Teil bereits zuvor der Prostitution nach, alle hatten schon sexuelle Erfahrungen. … Bei der Strafzumessung war mildernd zu berücksichtigen, dass die Prostituierten jeweils nur über einen relativ kurzen Zeitraum im Jasmin tätig waren, größtenteils aus dem Prostituiertenmilieu und freiwillig kamen. Die gegenüber den Frauen angewandte Gewalt des Angeklagten hielt sich in Grenzen.
Wie lang muss ein Leidensweg sein, bis er entsprechend gewürdigt wird? Meiner dauert bis heute an. Es spielt keine Rolle, ob Lea und ich eine Woche, einen Monat oder ein Jahr im Jasmin gewesen sind. Ein einziger Tag hätte ausgereicht, um den Zug unseres Lebens entgleisen zu lassen.
*
Nach der Aktion mit der Polizei hatte ich »Hausdienst«. Die Zeit auf dem Strich war für mich vorbei. Eines der Mädchen hatte immer Telefondienst, meist übernahmen das Trixi oder Jasmin. Kugler schaltete regelmäßig Anzeigen in einer Tageszeitung: »Jasmin – süßer Stundenservice«. Für Eingeweihte ein Hinweis auf Sex mit Minderjährigen. Aus den Gerichtsakten erfuhr ich später, dass er Taxifahrern, die Kunden zur Merseburger Straße 115 lotsten, eine Prämie von 30 Mark zahlte. Wenn ein Freier kam, hockten wir aufgereiht im Wohnzimmer; wenn er nicht vorher schon einen speziellen Wunsch geäußert hatte, durfte er sich in Ruhe bei einem Getränk seiner Wahl eine von uns aussuchen und mit ihr ins Schlafzimmer gehen. Vorher musste er natürlich auch seiner »Herzensdame« ein Getränk ausgeben, das gehörte dazu. Wir entschieden uns meist für einen Pikkolo. Im Kühlschrank standen eigens präparierte Fläschchen mit Sprudel bereit; damit die Kunden den Unterschied nicht bemerkten, tranken wir gleich aus der Flasche. Die meisten fanden das irgendwie charmant und »bodenständig«. Den Herren selbst wurden die Getränke natürlich in Gläsern gereicht.
Das Schlafzimmer war ein fast quadratischer Raum mit zwei Fenstern. An der Stirnseite stand ein Doppelbett mit einem niedrigen Kopfteil, in das ein messingfarbenes Radio integriert war. Das Ganze war mit einem billigen braun-beigen Lederimitat überzogen. Über dem Bett hingen zwei Fächer, daneben eine Collage aus Fotos, die junge Frauen in aufreizenden Posen zeigten. An der Wand links neben dem Bett befand sich eine helle Kommode mit Stofftieren obendrauf, darüber ein Bild in Gelb- und Brauntönen. Ein Mädchen mit großen Kulleraugen, den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt, eine helle Träne im Auge. Unglaublich kitschig und unglaublich zynisch an so einem Ort. An der Fußseite des Bettes hing ein weiterer Fächer an der Wand, ein großer, der die weiße Wand weitgehend bedeckte.
Wenn eine von uns mit einem Freier in diesem Zimmer verschwand, warteten die anderen in der Küche oder im Wohnzimmer, bis sie wieder rauskam. Man hörte alles. Es war unangenehm, aber – nach Kuglers Evangelium – auch wichtig, dass nie eine allein mit einem Freier in der Wohnung war. Also lauschten wir nach verdächtigen Geräuschen, nach irgendetwas, das nicht »normal« klang, damit wir bei Bedarf eingreifen konnten. Eine völlig absurde Situation, in der Küche zu sitzen und dabei zuzuhören. Man fängt an, Witze zu reißen, froh, dass man da nicht selbst auf dem Bett liegt. Sucht Halt in dummen Bemerkungen oder einfach nur in der Stille, die verbindet. Es hat eine andere getroffen, nicht mich.
An manchen Tagen gaben sich die
Weitere Kostenlose Bücher