Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
und ihn vorhin gemeinsam ins Bett gebracht. Alles gut.
Jetzt sitzen wir jeder an seinem Tisch im Arbeitszimmer, draußen ist es schon dunkel. Ich bin froh, zu Hause zu sein, dieses Zuhause zu haben. Und Pierre.
Ein paar Minuten später ertrage ich seine Anwesenheit nicht mehr. Ich will allein sein und doch auch nicht.
Ich springe hektisch auf, laufe zur Stereoanlage und setze mir Kopfhörer auf. Ich will ihn nicht hören. Hoffentlich fragt er mich jetzt nicht, wie es mir geht. Mein Exmann hat das immer getan: »Was ist denn los? Hast du irgendwas? Komm, lass dich nicht so hängen!«
Eine Scheißfrage. Genau wie die, die mein Therapeut anfangs vor jeder Sitzung gestellt hat: »Wie geht es Ihnen?«
»Wie soll es mir gehen? Wenn es mir gutginge, wäre ich nicht hier.«
Er musste schmunzeln und sagte: »Ja, Sie haben recht. Ist wirklich eine dumme Frage.« Seitdem fragt er nur noch, was es Neues gebe. Auch nicht besser.
Keine Fragen. Nicht reden. Jedes Wort ist zu viel.
Das Atmen fällt mir schwer, als säße jemand auf meiner Brust. Konzentrier dich, es geht vorbei. Mein Blick irrt durch den Raum, sucht panisch Halt am Bücherregal. Die Bilder kommen zurück, wie hungrige Wölfe kratzen sie an der Tür. Ich lass euch nicht rein. Ich versuche langsamer zu atmen, meine Augen brennen.
Holz splittert, gleich sind sie da. Wie ein Film legen sie sich über die Realität, kleistern alles zu.
Pierre sieht mich an. Dann steht er leise auf und läuft hinter mir vorbei in die Küche. Ich ignoriere das.
Er kommt zurück und stellt eine Tasse mit heißem Tee vor mich auf den Schreibtisch. Mit der Hand berührt er sanft meine Schulter. Seine Art mir zu sagen: Ich bin bei dir.
Ich muss jetzt danke sagen. Irgendwas. Ihm zeigen, dass es gut ist, dass er da ist.
Seine Finger brennen auf meiner Haut. Ich merke, dass ich die Kontrolle verliere. Ich fange an zu zittern, bekomme Herzrasen, breche in Tränen aus.
Bitte nicht. Nicht jetzt. Ich hebe abwehrend die Hände über den Kopf. Nimm mich jetzt nicht in den Arm, weil es dann noch mehr weh tut und ich nicht weiß, ob ich das auch noch aushalten kann.
Ich fühle mich zerrissen. Da ist jemand, der mit mir schweigt. Der mit mir lacht, sich sorgt, mich erträgt. Und ich stoße ihn weg, kann nicht anders. Ich bin wütend auf ihn und doch wieder nicht. Ich bin wütend auf mich. Weil ich meine Gefühle nicht unterdrücken kann. Ich will ihnen keine Macht über mich geben. Die Kontrolle behalten und selbst entscheiden, wann ich Gefühle zulassen möchte. Jetzt in diesem Augenblick kann ich sie nicht ertragen.
Ich versuche die Bilder wegzuschieben, die mir die Luft zum Atmen nehmen. Den Schmerz zu ignorieren, der mich überwältigt, den ich so unmittelbar spüre, als würde er mir eben erst angetan. Die Angst, die Hilflosigkeit, das Ausgeliefertsein. In Sekundenschnelle, ohne Vorwarnung ist alles wieder da. Ich falle aus meinem Leben im Jetzt heraus und finde nur schwer wieder zurück. Ich weiß, dass ich da durchmuss, immer wieder zurück zum Ursprung des Traumas. So lange, bis die Bilder unschärfer werden, die Farben blasser, die Wölfe seltener über mich herfallen.
Dass ich da durchmuss, war mir nicht immer so bewusst.
Es gab eine Zeit, in der ich glaubte, den Schmerz kontrollieren zu können. Meine Vergangenheit in einen Schrank packen zu können, alles hineinstopfen und dann die Tür mit aller Kraft zudrücken. Aber wie bei einem vollgepackten Schrank springt die Tür immer wieder auf, der Inhalt quillt heraus, ein einziges Chaos. Erst wenn man Stück für Stück aufhebt, sich ansieht, zusammenlegt und ordentlich einräumt, hat man die Chance, dieses Chaos vielleicht irgendwann zu bewältigen. Vielleicht.
Es gab eine Zeit, in der ich sogar über meine Erlebnisse im Jasmin reden konnte. Nüchtern, beherrscht, ohne etwas dabei zu fühlen. Als würde ich jemandem von einem Kinofilm erzählen, die Hauptfigur aus großer Distanz beschreiben. Ein Teil meines Lebens abgetrennt und von außen betrachtet wie durch eine gläserne Käseglocke.
Geschlossene Gesellschaft
Nur ausgewählte Körper im Warenlager
Junges Fleisch mit straffer Haut
Hühnerbrüste, so fein und mager
Gesellschaft geschlossen, pädophil versaut
Ich erinnere mich an einen Tag, an dem Kugler ungewöhnlich früh ins Jasmin kam. Wir waren gerade erst aufgestanden, es muss so um die Mittagszeit gewesen sein. Kugler sagte uns, dass am Abend ein paar Geschäftsleute kämen, ganz exklusiv, und der »Laden« deshalb
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