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Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)

Titel: Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mandy Kopp
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seid mir dafür verantwortlich, dass alles klargeht.« Jasmin nickte und musterte uns von oben bis unten. »Ich verlass mich auf euch!«
    Draußen auf dem Flur kam es zu einem kurzen Wortwechsel mit Trixi. Ich konnte nicht hören, worum es ging, ich sah nur, wie er ihr plötzlich fest ins Gesicht schlug. Während ich zusammenzuckte, verzog sie keine Miene. Dann klappte die Tür hinter ihm ins Schloss. Im Treppenhaus hörten wir ihn pfeifen. Danach war Stille. Lea und ich hockten auf dem Plüschsofa und rührten uns nicht. Ich weiß nicht, ob wir damals schon realisierten, was das alles bedeutete. Zu absurd war die ganze Situation, ich hätte beinahe angefangen, hysterisch zu lachen. »Steig nie in ein fremdes Auto, hörst du? Nimm keine Bonbons von unbekannten Männern an!« Das hatte Mutter uns immer eingebläut. Warum, haben wir als Kinder nie so recht verstanden. Und hier gab’s noch nicht mal Bonbons! Scheiße, gleich war ich wirklich drüber.
    *
    Zwanzig Jahre später sitze ich in meinem Arbeitszimmer und ringe mit jedem Wort. Meine Hand zittert, während ich versuche, meine Gedanken festzuhalten. Seit Jahren begleiten sie mich auf Schritt und Tritt. Sie verfolgen mich nachts in meinen Träumen, sind da, wenn ich ein bestimmtes Geräusch höre, einen bestimmten Geruch wahrnehme. Flashbacks nennt mein Therapeut diese Situationen, die mich wie aus dem Nichts überfallen. Wenn man den Dingen einen Namen gibt, kann man sie besser beherrschen, sagt er. Die Angst und der Ekel bleiben. Genauso die Fassungslosigkeit, das Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Dinge des Alltags türmen sich vor mir auf wie ein unüberwindlicher Berg. An der Supermarktkasse lasse ich alles stehen und liegen, weil ich dieses Parfum rieche. Der Geruch meines »Stammfreiers«. Ich stürze aus dem Laden, sitze zitternd im Auto, blicke immer wieder panisch in den Rückspiegel. Er wird gleich da sein. Sei froh, dass er gekommen ist, nicht einer von den anderen. Der nette Heinz. Manchmal stehe ich Stunden auf dem Parkplatz, schreie und heule, unfähig, den Motor zu starten. Aber es ist besser als früher. Früher, wenn mich diese Flashbacks gepackt haben, war ich völlig weggetreten, abgetaucht in einen Dämmerzustand. Manchmal blutete ich hinterher, hatte mir mit einem Messer oder einer Schere selbst eine Verletzung zugefügt. Damit ich etwas anderes spürte als nur diesen einen Schmerz.
    »Autoaggression«, sagt mein Therapeut, »das ist ganz normal. Ein Ventil, Mandy, um nicht in der Gegenwart an der Vergangenheit zu zerbrechen.«
    Wenn ich wieder an die Oberfläche kam, fühlte ich mich völlig schutzlos. Ein kleines Mädchen, in die Ecke gekauert, auf den nächsten Schlag wartend. Mein Kopf sagte mir, es ist vorbei, es kann dir nichts mehr passieren. Mein Bauch sagte mir, es ist nie vorbei. Nicht zur Ruhe kommen, bloß nicht nachdenken, lenk dich ab. Wenn du nur erschöpft genug bist, kannst du auch schlafen.
    Wird es wirklich jemals vorbei sein?
    *
    Die Lütznerstraße ist an der Stelle, an der in den Neunzigern der sogenannte Babystrich war, vierspurig. Kopfsteinpflaster, das an manchen Stellen notdürftig mit Teer ausgebessert war. In der Mitte verliefen die Straßenbahnschienen. Kuglers Revier befand sich vor einer kniehohen Backsteinmauer mit einem verschnörkelten Eisenzaun drauf. Jeden Tag wurden Lea und ich, manchmal auch Ines, hierhin gebracht. Die Wagen mit unseren Aufpassern parkten auf der anderen Straßenseite. Bei Bedarf wendete einer und klemmte sich hinter das Auto des Freiers.
    In den ersten Tagen weigerte ich mich, in irgendeinen der Wagen zu steigen, die vor mir hielten. Ich ekelte mich, hatte Angst vor dem, was sie von mir wollen könnten. Ich ging zwar zum Bordstein, beugte mich auch durch die heruntergekurbelte Scheibe ins Innere, machte dem Freier aber deutlich, dass ich kein Interesse hätte. Hin und wieder kassierte ich dafür eine Beschimpfung, die meisten zogen aber tatsächlich wieder ab und stoppten ein paar Meter weiter. Am Ende unserer »Schicht« stellte mich Rainer zur Rede. Ich sagte, aus der Nähe betrachtet sei ich doch nicht ihr Typ gewesen, sie hätten das Interesse verloren und seien eben weitergefahren.
    Die Masche zog nicht lange. Nach ein paar Tagen ohne einen Pfennig Geld, den ich Kugler hätte abliefern können, gab es Prügel. Entweder erledigten das Rainer und Ludwig gleich im Auto, oder sie kündigten mir Kuglers »Besuch« an. »Warte Schätzchen, wenn der dich in die Finger kriegt. Du glaubst

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