Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Lea hat nach unserer Befreiung nur noch ein einziges Mal ausgesagt. Die Sache sei damit für sie erledigt, sie wolle und könne sich nicht erinnern und werde ihr Wissen mit ins Grab nehmen. Ich habe sie nach meiner Flucht aus Leipzig noch ein Mal gesehen. Vor dem Gerichtsgebäude in Dresden, kurz vor meiner ersten Befragung. Wolfgang parkte gerade ein, als ich eine junge Frau in Begleitung einer älteren Dame die Treppe herunterkommen sah. Mein Herz raste. Ich kannte diesen Gang, dieses Gesicht, diese ganze Gestalt. Fünfzehn Jahre, wie weggewischt. Ihr Lachen, ihre frechen Antworten, ihre Lebendigkeit, mit der sie mich immer angesteckt hatte. Der Morgen, an dem ich verzweifelt versucht hatte, sie zu wecken. Kuglers Liebling. Lea und du, ihr müsst das richtigstellen. Der ist nicht verkehrt. Du bist verantwortlich für sie, du hast sie im Stich gelassen. Sie hat ein Kind mit ihm. Warum hast du sie eigentlich nie angerufen, hattest doch die Nummer? Sie lässt Ihnen schöne Grüße ausrichten, es geht ihr gut.
Wie oft hatte ich mir vorgestellt, wie es wäre, wenn wir uns wiedersehen würden. Dass es durch die Scheiben eines Autos sein würde, hatte ich mir allerdings nicht ausgemalt. Ich hieb mit der Hand dagegen, mein Atem ließ die Scheibe beschlagen. Lea! Sie hörte mich nicht, verschwand hinter der nächsten Straßenecke.
Auch Ines schwieg, ebenso Jasmin.
Die Einzigen, die offenbar bereit waren, sich mit all dem zu konfrontieren, waren Trixi und ich. 2008 waren wir Einzelkämpferinnen, keine konnte auf die andere zugehen. Wir sahen uns an und blickten in einen Abgrund. Ein Spiegelbild, das wir nicht sehen wollten. Eine Fratze, die uns angrinste, unerträglich, quälend.
Heute, vier Jahre später, ziehen wir gemeinsam an einem Strang – und sitzen gemeinsam auf der Anklagebank. Und das ist eigentlich die zynischste Wendung in unserer Geschichte. Es schert bis heute kein Schwein, was uns damals alles angetan wurde. Da waren Minderjährige im Jasmin? Frau Kopp, also bitte, Sie waren doch alle geschminkt, wie hätte man das merken sollen? Sie bezichtigen hier ehrbare Männer, wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Sie sind unglaubwürdig! Wie können Sie sich an einen Gürtel mit einer besonderen Schnalle erinnern, wenn Sie nicht einmal wissen, wie lang Sie im Jasmin waren? Schläge und Misshandlungen – das hätten Sie doch wissen müssen, dass das dazugehört.
Fressen oder gefressen werden.
Verkehrte Welt
Aufgewirbelt, so viel Staub und Dreck
Weggetragen mit dem Winde
Die Wahrheit hier in meinen Wunden steckt
Und nach dem Sturm ich endlich Ruhe finde
Nach dieser zweiten Vernehmung hatte ich es satt, gefressen zu werden. Sollten sie doch an mir ersticken, ich wollte die ganze Scheiße nicht länger herunterschlucken. Ich wollte nicht länger hinnehmen, dass man in der Presse oder auch vor Gericht von uns als »Prostituierten« sprach, dass man uns diffamierte als »selbst schuld, war doch alles freiwillig«, dass Zitate auftauchten, die aus dem Zusammenhang gerissen wurden, nur um uns in ein schlechtes Licht zu rücken. Ich wollte nicht länger akzeptieren, dass gesellschaftlicher Rang, Anzug und Schlips darüber entschieden, wer die Wahrheit sprach und wer angeblich nicht. Vor Gott und dem Gesetz sind alle Menschen gleich, heißt es so schön.
Ich wollte von nun an mit offenem Visier kämpfen, auch wenn ich dabei zugrunde gehen sollte. Ich wollte ihnen mit allem, was ich habe, entgegenschreien: Verdammt noch mal, meine Herren, ICH stehe! Verkriecht euch doch hinter euren Seilschaften, schickt eure Spitzenanwälte vor, mauschelt, so viel ihr wollt, ich lasse mich nicht unterkriegen, nicht von euch. Ich werde es schaffen. Ich hatte immer schon ein Problem damit, wenn jemand zu mir gesagt hat, das schaffst du nicht.
Wenn ich diese Zeilen heute schreibe, muss ich an die letzten Worte meines Vaters denken. »Mandy, hör nie auf an dich zu glauben. Sag nie, du kannst etwas nicht, wenn du es nicht versucht hast«, hatte er zu mir gesagt, kurz vor seinem Tod. Diese Worte geben mir Kraft, wenn ich mal wieder an der Richtigkeit meines Tuns zweifle. Wenn ich in der Zeitung wieder verzerrte oder einseitige Berichte lese, wenn ich höre, dass selbst die Pressefreiheit in unserem Land mit Füßen getreten wird. Oder wie sonst ist es zu verstehen, dass Thomas und Arndt am 1. April 2010 vor Gericht gezerrt wurden wegen ihrer Recherchen und Veröffentlichungen im Sachsensumpf? Sie wurden in erster Instanz zu einer
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