Die Zeit des Schweigens ist vorbei (German Edition)
Aussage.
Erst später, das hatte ich ja bereits erwähnt, räumten die beiden Polizisten ein, dass sie mir – wovon im Protokoll nichts erwähnt wurde – weitere Bilder und Zeitungsfotos gezeigt hatten. Hätte ich das Protokoll zu Gesicht bekommen, ich hätte den Fehler sofort bemerkt.
Auch warum damals erneut ermittelt wurde, erfuhr ich erst später, als Akten des Verfassungsschutzes an die Öffentlichkeit gelangten. Aus ihnen geht hervor, dass wenigstens zwei Personen bereits 1993 / 94 von mehreren Zeugen als Kunden des Jasmin identifiziert worden waren. Warum hatte man damals keine Ermittlungen eingeleitet? Warum war es zu keiner Gegenüberstellung mit mir gekommen, auch nicht, als 2000 dieselben Personen von unterschiedlichen Zeugen erneut identifiziert wurden? Hätte man nicht jeder Spur konsequenter nachgehen müssen?
Ich wurde gefragt, ob meine Angst vor der Leipziger Innenstadt einen Grund habe. Für einen kurzen Moment fragte ich mich, warum die Staatsanwaltschaft das nicht den Akten entnehmen konnte. Dort musste klar und deutlich drinstehen, dass alle Mädchen damals unter Druck gesetzt und mit dem Tod bedroht worden waren. Dass man auf mich und Lea geschossen und wir Anzeige gegen Unbekannt erstattet hatten. Dass ich danach aus Leipzig weggebracht worden war, um mich zu schützen.
»Soll das heißen, Sie haben eine neue Identität bekommen?«
Wollten die mich jetzt für dumm verkaufen? Ich hatte sämtliche Dokumente, die mir zur Verfügung standen, bereits bei der ersten Befragung an die Staatsanwaltschaft übergeben, auch meine Jugendamtsakte mit dem Decknamen »Caroline Kirchner«.
Der Oberstaatsanwalt konterte: In den Polizeiakten fände sich weder eine Anzeige noch ein Protokoll unserer Aussagen bezüglich der Schießerei. Aber aus den Jugendamtakten geht hervor, was geschehen war. Warum stand also nichts in den Polizeiakten?
Und so ging es munter weiter, ein vermeintlicher Widerspruch reihte sich an den nächsten.
»Wie erklären Sie sich das?«, fragte der Oberstaatsanwalt immer wieder. Ich hatte keine Erklärungen, konnte nur das sagen, was mir in Erinnerung geblieben war.
Kurz vor der Pause, als es um unterschiedliche Aussagen der Mädchen ging, sagte er plötzlich: »Wer lügt?«
Ich entgegnete ihm, dass ich niemandem unterstellen würde zu lügen. Und dass es ganz normal sei, dass sich nicht jeder an die gleichen Details erinnern würde. Dann fragte ich ihn, welchen Grund wir hätten, eine Aussage zu machen, die nicht der Wahrheit entsprechen würde.
»Meines Erachtens gibt es drei Erklärungen für eine falsche Aussage, die da wären: Erstens, eine der Zeuginnen lügt, zweitens, eine der Zeuginnen irrt sich, und drittens, eine der Zeuginnen wurde manipuliert. Was gilt in Ihrem Fall?«
Ich machte ihm klar, dass in meinem Fall nichts dergleichen gelte. Ganz im Gegenteil, ich hatte nur eine zusätzliche Belastung zu schultern. Alles würde wieder aufgewühlt, das sei für mich und meine Familie eine schwere Bürde. Ich fühlte mich unverstanden von diesem Mann. Weiß er, dachte ich, wie oft ich nachts schweißgebadet aufwache, weil diese Kerle im Traum wieder auf mir gelegen sind? Weiß er, wie oft ich in all den Jahren daran gedacht habe, mich umzubringen? Wie viel Kraft es mich kostet, mit dieser Vergangenheit zu leben? Nein, das weiß er nicht. Und ich wage zu behaupten, dass sich auch die Freier selbst generell keine Gedanken darüber machen, was sie ihren »süßen Mäusen« antun. Haben sie ein schlechtes Gewissen? Manche vielleicht. Aber nur kurz, dann locken Unschuld und Apfelbrüste.
Der Staatsanwalt meinte, wir bräuchten vielleicht alle eine Pause.
Nach der Pause ging es mit unverminderter Heftigkeit weiter.
»Kann es nicht sein, dass Sie sich irren? Es ist über fünfzehn Jahre her.«
Es war ein Muster, das sich immer wieder wiederholte. Wenn ich mich an etwas nicht erinnern konnte und das auch genauso sagte, wurde mir daraus ebenso ein Strick gedreht wie im umgekehrten Fall. In den Augen der Staatsanwaltschaft machte ich mich – übrigens ebenso wie Trixi – dadurch verdächtig, dass ich mich an manche Szenen mit einer extremen Detailgenauigkeit erinnern konnte. Wer sich mit traumatisierten Menschen ernsthaft beschäftigt, der weiß, dass es bei ihnen eine Mischung aus Amnesie und fast fotografisch exaktem Gedächtnis gibt. Und dass auch der Verlust des Zeitgefühls typisch ist. Ob man in Dresden diese Ernsthaftigkeit aufgebracht hat? Von einem psychologischen
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