Die Zeit, die Zeit (German Edition)
das Sims und atmete tief durch. Unter ihm sah er den quadratischen Betonvorsprung mit dem eingelassenen Rost vor dem Hauseingang. Dort hatte Laura gelegen. In der Vertiefung jenes Fußabstreifers hatte sich ihr Blut angesammelt.
Weiter vorne am Straßenrand bei den Briefkästen hatte sie gestanden, als Knupp sie fotografierte. Und vierundzwanzig Stunden später in denselben Kleidern wieder. Oder immer noch?
Wie James Lee Buttonpond vor fast fünfzig Jahren, als er noch beide Arme hatte. Und vier Jahre später mit beiden Armen wieder. Oder immer noch?
Die Stille der Nacht kam Peter Taler plötzlich bedrohlich vor. Er schauderte und schloss das Fenster.
10
Den Nachbarn des Gustav-Rautner-Wegs bot sich an diesem Sonntagmorgen ein seltsames Bild: Der eigenbrötlerische alte Knupp hantierte zittrig und umständlich mit einem antiken Theodoliten, unbeholfen assistiert von dem menschenscheuen jungen Witwer aus dem Haus gegenüber.
Knupp ging in der rechthaberischen Art zur Sache, die alten Männern eigen ist, wenn sie etwas besser können. Taler sah man an, dass ihm das Ganze peinlich war. Er fühlte sich beobachtet, obwohl an diesem frühen Sonntagmorgen kaum jemand auf den Beinen war.
Albert Knupp hatte sich für sein großes Projekt einen alten Theodoliten beschafft und sich das nötige vermessungstechnische Grundwissen selbst angeeignet. Er stand über das Gerät gebeugt, guckte durch das Zielfernrohr und dirigierte seinen Gehilfen mit gebieterischen Gesten herum. Ein wenig weiter links, ein bisschen nach rechts, einen Schritt zurück.
Er hatte Taler Sinn und Ziel der Aufgabe erklärt, wie ein pädagogisch fortschrittlicher Offizier seinen Soldaten eine Übung. Es ging darum, »an die bestehenden Polygonpunkte anzuschließen, um neue Fixpunkte im Garten zu bestimmen«.
Für Taler war das Unangenehme an dieser Arbeit, dass sich diese amtlichen Messpunkte auf der Straße befanden. Er musste mit Knupp das Stativ samt Theodolit über diesen millimetergenau zentrieren und horizontieren. Allein diese Arbeit kostete den tatterigen Geometer und seinen unerfahrenen Gehilfen über eine halbe Stunde.
Talers Hoffnung, nicht dabei beobachtet zu werden, wurde durch den Hauswart zunichtegemacht, den Mann seiner schwatzhaften Putzfrau. Er stand plötzlich hinter ihnen und fragte: »Was vermessen Sie da?« In einem Tonfall, als sei Vermessen ein schwerwiegender Verstoß gegen die Hausordnung.
»Polygonzug«, brummte Knupp.
Hauswart Gelphart gab sich keine Blöße und antwortete ebenso fachmännisch: »Dachte ich mir.«
Der Hauswart war noch in Sichtweite, als schon die nächsten Zaungäste aufkreuzten: das Ehepaar Keller, das eine Etage unter Taler wohnte. Es war sonntäglich gekleidet und bestimmt auf dem Weg zum Gottesdienst ihrer Freikirche. Ihrer Sekte, wie es Frau Gelphart giftig nannte.
Der Vermessungspunkt, über dem Knupp und Taler gerade den Theodoliten aufstellten, befand sich genau auf der Ausfahrt von Kellers grauem Nissan, und sie mussten den Platz räumen. Knupp tat es schimpfend und Taler mit der Versicherung, dass dies überhaupt kein Problem sei.
Er wolle es immer allen recht machen, hatte Laura ihm manchmal vorgeworfen. Das gehöre ins gleiche Kapitel wie sein Pünktlichkeitsfimmel. Lieber warte er zwanzig Minuten, als dass er zwei Minuten warten lasse. Er solle sich das abgewöhnen, sagte sie, er sei schließlich auch jemand.
Daran hatte Peter Taler nie gezweifelt. Er wusste, was hinter dieser vermeintlichen Schwäche steckte: Er wollte niemandem etwas schuldig sein. Keinen Gefallen, kein Geld, keine Zeit, nichts. Er hatte es nie geschafft, Laura den wahren Grund offenzulegen, denn sie hätte es für Überheblichkeit halten können. Wie er Laura kannte, war ihr im Zweifelsfall die Unterordnung doch noch lieber als die Überheblichkeit.
Er blieb auch den Kellers keine Minute schuldig. Dafür Knupp die mehr als zwanzig, die sie dazu brauchten, den Theodoliten wieder so einzurichten wie zuvor. Aber das war Taler egal. Knupp glaubte ja nicht an die Zeit.
Er war froh, als er mit seinem rotweißen Fluchtstab endlich in Knupps Garten in Deckung gehen und dort die Punkte anzeigen konnte, die den Alten interessierten: Sitzplatz, Zaun, Spalier, Wäschestange, Steingarten, Plattenweg.
Es war früher Nachmittag, als sie die Fixpunkte ermittelt hatten, die Knupp für den Grundriss des Vorgartens benötigte.
»Mittagspause«, befahl er. Er führte Taler ins Wohnzimmer, wo für zwei Personen gedeckt war,
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