Die Zeit, die Zeit (German Edition)
vier Seiten hatte erreichen können.
Er machte im Grunde nichts anderes als der alte Knupp auf der anderen Straßenseite. Nur tat er es nicht in der Hoffnung, auf diese Weise zu dem verhängnisvollen Tag zurückkehren zu können. Taler tat es, weil er auch nach über einem Jahr nicht bereit war, zur Tagesordnung überzugehen. Er wollte alle Lügen strafen, die sagten, das Leben gehe weiter.
Er sah sich noch einmal im Zimmer um, und als er sicher war, dass sich alles an seinem Platz befand, löschte er das Licht und schloss die Tür.
In der Küche richtete er die Tapas auf zwei Tellern an, trug sie ins Wohnzimmer und deckte den Tisch. Auch eine der Traditionen, die er Laura zu Ehren aufrechterhielt. Nie hätte sie aus Kunststoffbehältern gegessen. Und nie kam es vor, dass sie in der Küche aß. Nicht einmal das Frühstück. Für sie gehörte es zu Kultur und Lebensqualität, sich zum Essen an einen gedeckten Tisch zu setzen. Und so war es und blieb es auch für ihn.
Er setzte sich an den Tisch, schenkte Wein nach und aß im schwachen Licht der Straßenlaterne, das von draußen hereindrang.
Die Fenster von Knupps Haus waren noch immer dunkel. Unter keinem Vorhang, durch keine Jalousieritze drang ein Lichtstreifen hervor. Machte der Alte vielleicht das Gleiche wie er? Saß er an seinem Tisch und begnügte sich mit dem Licht der Straßenbeleuchtung, die sich in den Pfützen und auf den nassen Dächern der vier geparkten Autos spiegelte? Hatte Frau Gelphart recht? War er auf dem besten Weg, auch so ein Kauz wie Knupp zu werden?
Taler machte Licht, setzte sich in den Polstersessel und nahm Lauras Buch von dem Glastischchen, das daneben stand. Der Irrtum Zeit von Walter W. Kerbeler.
Der Band war zerlesen. Auf vielen Seiten hatte jemand Eselsohren als Buchzeichen hinterlassen. Ganze Seiten waren markiert, die Zeilen vieler Abschnitte waren unterstrichen, es wimmelte von Randbemerkungen, Sternchen, Querverweisen und Ausrufezeichen.
Meistens hatte der Leser einen spitzen Bleistift benutzt, aber manche Passagen hatte er aufgeregt mit rotem Farbstift hervorgehoben:
»Materie können wir anfassen, das beweist, dass sie existiert. Die Schwerkraft oder das Sonnenlicht können wir zwar nicht anfassen, aber sie sind dennoch existent, weil sie auf Materie wirken. Die Schwerkraft lässt Dinge zu Boden fallen, die Sonnenstrahlen wärmen unsere Haut.«
Oder: »Materie, Schwerkraft oder Sonnenstrahlen können wir wahrnehmen und deswegen auch beschreiben. Die Wahrnehmung und die Beschreibung sind die Voraussetzungen dafür, dass etwas real ist, also in der Wirklichkeit existiert.«
Oder: »Haben Sie sich noch nie gewundert, weshalb die Uhren, die uns die Zeit angeben, nicht auch von der Zeit betrieben werden, sondern von Federn, Zahnrädern oder Batterien?«
Oder: »Die Zeit kontrolliert weder die Dauer unseres Lebens noch unseren Alterungsprozess, der erwiesenermaßen von biologischen Vorgängen gesteuert wird, wie zum Beispiel der Zellteilung.«
Sogar mit Rot und Blau war die folgende Schlussfolgerung markiert: »Es existiert also keine irgendwie geartete Wechselbeziehung zwischen unserer Zeitauffassung und irgendeinem physischen Phänomen. Folglich können wir Zeit nicht physisch wahrnehmen und sie deshalb auch nicht beschreiben. Die Zeit erfüllt keinen Aspekt der zwei Bedingungen, mit denen sie ihre physische Existenz beweisen könnte.«
Dieser letzte Satz war zusätzlich zu den zweifarbigen Unterstreichungen mit einem halben Dutzend Ausrufezeichen garniert.
In diesem abgegriffenen Buch zu stöbern kam Taler vor, wie am Fenster zu stehen und zu sehen, ohne gesehen zu werden. Er beobachtete heimlich diesen unbekannten Leser, den diese Lektüre so bewegt hatte. Wer war er? Was hatte er für Gründe, an der Existenz der Zeit zweifeln zu wollen? Waren es ähnliche wie die von Knupp? Oder die von ihm selbst?
Beim Weiterblättern stieß Taler immer wieder auf die Wiederholung der Argumente, die er bereits von Knupp kannte. Das, was wir als Zeit betrachten, sei nur die Methode, Veränderung zu messen. Aber es sei nicht die Zeit, die die Bewegung verursache, den Sprinter vom Start ins Ziel bringe, die Haare grau und die Blätter bunt werden lasse. Die Veränderung, das einzige Indiz für die Existenz der Zeit, werde nicht von ihr verursacht. Und sei damit der Beweis für ihre Inexistenz. Wie Knupp kam auch Walter W. Kerbeler zu dem Schluss, dass, wo keine Veränderung stattfinde, auch keine Zeit existiere.
Und wie Knupp ging
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