Die Zeit, die Zeit (German Edition)
den Stiefelsohlen hatten sich Lehmklumpen gebildet. Es hatte am späten Nachmittag noch einmal geregnet, und von der Birke tropfte es ihm in den Kragen.
Endlich stieß sein Schäufelchen auf Stein.
»Da!«, sagte Knupp.
Taler legte den Markstein frei. Er war quadratisch und hatte ein Loch in der Mitte, das den Punkt bezeichnete, den sie aus dem Nachbargarten zu Knupp übertragen mussten, um auch den Hintergarten vermessen zu können.
Sie waren gerade dabei, den Theodoliten über den Zaun zu schaffen, als eine Frauenstimme sagte: »Was machst du hier?«
Am Weg stand eine alte Frau. Sie hatte eine Schürze an, wie sie Frauen früher zur Hausarbeit benutzten, ging am Stock und trug einen Eimer mit Küchenabfällen. Sie war auf dem Weg zum Komposthaufen.
»Guten Abend, Sophie.« Knupp klang verlegen.
»Was machst du hier?«, wiederholte sie.
»Wir vermessen etwas.«
Erst jetzt nickte sie Taler zu und wandte sich wieder an Knupp. »Und was?«
»Du hast hier einen Vermessungspunkt, den wir zu mir übertragen wollen.«
»Der Punkt bleibt hier.«
»Nicht richtig übertragen, nur… theoretisch.«
»Auch dann schleicht man sich nicht einfach ein. Man klingelt und fragt, ob man etwas dagegen habe, wenn man in den Garten komme, um einen Punkt zu übertragen.«
»Ich wollte nicht stören.«
»Dann stör auch nicht länger.« Sie ging an ihm vorbei, kippte den Inhalt ihres kleinen Kübels in den Kompost und wandte sich wieder in ihre Richtung. »Ich warte hier, bis dein Helfer und dieses Ding wieder drüben sind.«
Sie hievten gemeinsam den Theodoliten zurück.
»Schönen Abend und nichts für ungut«, sagte Knupp.
»Mit der Birke hat das aber nichts zu tun, nicht wahr?« Ihre Frage klang misstrauisch.
»Nichts«, bestätigte Knupp, »gar nichts.«
Später fragte Taler: »Wer war das?«
»Sophie Schalbert. Wohnt allein mit ihrem gelähmten Mann in diesem Kasten. Sollten beide längst ins Heim.«
»Und was meinte sie mit der Birke?«
»Die Birke im ›Probleme‹-Ordner. Ich hatte es ihr vor einiger Zeit mal vorsichtig angedeutet, da wurde sie fuchsteufelswild.«
»Und wie wollen Sie das lösen?«
» Wir werden es lösen.«
Als es dunkel wurde, sagte Knupp: »Heute werden Sie etwas kosten, was Sie nie mehr bekommen.«
Taler hatte, wie an jedem Abend, nichts vor und folgte ihm ins Wohnzimmer. Knupp brachte zwei Schnapsgläser und eine Flasche. Sie war nur noch zu einem Viertel gefüllt mit einer farblosen Flüssigkeit. Mit breitem Pinselstrich aus grüner Farbe stand » GRST 09« darauf.
Knupp entkorkte sie feierlich, füllte die beiden Gläschen und prostete Taler zu.
Es war ein viel zu hochprozentiger Schnaps, der ihm den Atem verschlug.
»Raten Sie.«
»Irgendein Bauernschnaps.«
»Apfel. Gravensteiner 2009. Von da draußen.« Er zeigte zum Fenster. »Trinken Sie ihn mit Verstand. Was Sie hier sehen« – er hielt die Flasche in die Höhe – »ist alles, was davon übrig ist. Im Frühjahr nach dieser Ernte habe ich die Bäume ersetzt.«
Taler nippte noch einmal am Glas. »Und in diesem Frühjahr wieder. Weshalb?«
»Hatte mich verschnitten.«
»Verschnitten?«
»Ich wollte die neuen Bäume in die Form von damals schneiden. Aber es gelang mir nicht. Man muss dafür zu zweit sein. Einer sagt, wo, der andere schneidet.«
»Verstehe.«
»Sie werden der sein, der schneidet.« Knupp stand auf und verließ den Raum. Er kam mit zwei Fotos zurück. Sie waren auf transparente Folie gedruckt und zeigten einen der Apfelbäume aus dem Garten. »Das ist von einundneunzig. Und das hier von jetzt.« Knupp hielt sie gegen die Lampe und versuchte, sie genau übereinander zu legen, gab aber schnell auf. »Versuchen Sie es«, befahl er.
Es gelang auch Taler nicht.
»Über dreißig solcher Fotos habe ich gemacht. Und trotzdem habe ich es nicht geschafft. Gibt es dafür nicht ein Computerprogramm?«
»Wahrscheinlich schon. Es gibt für alles ein Computerprogramm.«
»Beschaffen Sie es.« Knupp hob sein Gläschen und leerte es, Taler tat es ihm nach. Als der Alte es erneut füllte, gingen ein paar Tropfen daneben. Er klaubte ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sie auf. Unvermittelt sagte er: »Ihre Frau war wie meine. Auch auf der Suche.«
Das stimmte nicht. Im Gegenteil: Schon bei ihrer ersten Begegnung war Peter davon beeindruckt gewesen, wie genau Laura wusste, wer sie war und was sie wollte. Sie war eine gefestigte Persönlichkeit. Auch bei Fragen nach der Transzendenz wusste sie, wo sie
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