Die Zeit, die Zeit (German Edition)
er so weit zu behaupten, dass – weil eben Zeit nicht existiere – jede beliebige vergangene Situation wiederhergestellt werden könne. Die Schwierigkeit bestünde nur darin, die inzwischen geschehenen Veränderungen rückgängig zu machen.
Es folgte ein größeres Kapitel mit Experimenten, ähnlich wie die von Knupp, mit denen Kerbeler seine These untermauerte. Deckungsgleiche Fotos von Stillleben mit unterschiedlichen Daten und eidesstattlichen Erklärungen von Zeugen, dass die Bilder tatsächlich an den besagten verschiedenen Tagen aufgenommen worden waren. Das Bildmaterial war wenig überzeugend, da von schlechter Qualität.
Doch dann stieß Peter Taler auf den Fall, der ihn zum ersten Mal an seinen Zweifeln zweifeln ließ: das Buttonpond-Experiment.
James Lee Buttonpond war ein Sägereiarbeiter aus Doland, Ohio. Am 27. November 1967 wurde ihm bei einem Unfall an der Kreissäge der rechte Arm knapp über dem Ellbogen abgetrennt. Drei Jahre später kam er per Zufall mit Dr. Jack Meltstone in Kontakt, der mit Kerbeler eine Art transatlantische wissenschaftliche Zusammenarbeit pflegte.
Meltstone und Kerbeler, der zufällig gerade für einen Studienaufenthalt in den USA weilte, beschlossen, mit Buttonpond einen Versuch zu machen.
Die Beweisstücke des Buttonpond-Experiments bestanden aus vielen Seiten schwarzweißer Kontaktkopien.
Die Basis war die Vergrößerung eines der Kontakte. Sie zeigte James L. Buttonpond auf der Veranda eines hellgestrichenen Holzhauses. Ein korpulenter Mann in Jeans und einem T-Shirt der Ohio State Buckeyes. Breit grinste er in die Kamera und hielt mit beiden Händen ein Spruchband hoch über den Kopf mit der Aufschrift: »Champion 1966!!« In einer etwas unbeholfenen Handschrift hatte jemand am unteren Bildrand »Winner of the College World Series June 18 1966!« geschrieben.
Darunter in der gleichen Größe ein Foto derselben Veranda aus demselben Blickwinkel. Es zeigte denselben Mann gleich gekleidet mit demselben Spruchband. Aber er konnte es nicht über seinem Kopf straffen, denn die Hälfte seines rechten Arms fehlte. Und das breite Lachen ebenfalls. Die Bildunterschrift lautete: »James Lee Buttonpond, June 18 1970«.
Dieses Foto bildete auch den Anfang einer langen Reihe von leicht vergrößerten Kopien ungeschnittener Filmstreifen, alle vom gleichen Sujet, aber ohne Buttonpond, dafür mit Kreisen und Pfeilen, die alle auf Unterschiede zum ursprünglichen Bild aufmerksam machten. Einmal stimmte der Winkel des Schaukelstuhls zum Objektiv nicht, ein andermal der Faltenwurf eines Vorhangs hinter einer Fensterscheibe oder die Position einer welken Topfpflanze auf einer der drei Stufen zur Veranda. Hier und da waren zwei Männer auf dem Bild, die mit Messbändern, Winkelmess- und Nivelliergeräten zugange waren. Ein paar der Bilder waren unscharf, unter- oder überbelichtet, und auf einigen war der einarmige Buttonpond zu erkennen, der mit ernster Miene eine Messlatte hielt. Alle Bilder trugen Negativnummern in chronologischer Reihenfolge.
So ging das über mehrere Seiten, bis plötzlich, mitten in der Bilderfolge, eines eingekreist war. Ein Pfeil führte von der Einkreisung zu einer Vergrößerung.
Dieselbe Veranda, dieselben Gegenstände, alles ohne Markierungen von Verschiedenheiten, denn es waren keine vorhanden.
Aber an etwa der gleichen Stelle wie auf dem Foto von 1966 war eine Gestalt zu erkennen. Sie war etwas verwischt oder vielleicht eher etwas durchsichtig, aber es gab keinen Zweifel: Es war, in einer etwas anderen Stellung, das Spruchband etwas gesenkt und das Grinsen etwas weniger breit – James Lee Buttonpond. Mit beiden Armen.
Auf die Dokumentation folgte ein langer Text, der – laut einer Fußnote – erst in der zweiten, ergänzten Auflage von Der Irrtum Zeit angefügt worden war. Er enthielt umständliche Beweisführungen, ausführliche Zeugenaussagen und wütende Entgegnungen auf die Zweifel der Fachwelt an der Echtheit des Buttonpond-Experiments.
Es war viel Zeit vergangen über der Lektüre. Die Weinflasche war leer, und die Geräusche, die manchmal aus den Nachbarwohnungen drangen, waren verstummt. Als Peter Taler vom Sessel aufstand, merkte er, dass er etwas unsicher auf den Beinen war. Er ging ans Fenster. Der Regen hatte aufgehört, und durch eine Lücke in der Wolkendecke waren ein paar Sterne zu sehen. Taler zog den Tüllvorhang beiseite und öffnete das Fenster.
Kühle Luft und der Duft nasser Gärten drangen ins Zimmer. Er stützte sich auf
Weitere Kostenlose Bücher