Die Zeit, die Zeit (German Edition)
nur ein Verdacht gewesen. Als dieser sich nicht verscheuchen ließ, stellte er sie nicht zur Rede, sondern begann, ihr nachzuspionieren. Er brauchte keine großen kriminalistischen Fähigkeiten. Jedes Mal, wenn sie unter dem Vorwand einer familiären oder beruflichen Verpflichtung verhindert war und er von seinem Auto aus ihre Wohnung beobachtete, fand er Hinweise, dass sie zu Hause war. Er sah Licht in ihren Fenstern an Abenden, an denen sie angeblich Überstunden machen musste, und ihr Auto in der Tiefgarage an Sonntagen, an denen sie zu ihren Eltern aufs Land gefahren war.
Er suchte nach einer Möglichkeit, sie zur Rede zu stellen, ohne dass sie merkte, dass er ihr nachspionierte. Schließlich entschied er sich dafür, einfach bei ihr zu klingeln. Sie antwortete beim zweiten Mal. »Ja?«
»Ich bin zufällig vorbeigefahren und habe Licht gesehen«, sagte er.
»Das geht jetzt nicht«, sagte sie, »ich habe Besuch.« Vielleicht hatte sie es nicht so kalt gesagt, wie es in der rauschenden Gegensprechanlage geklungen hatte. »Okay, tschüss«, stieß er hervor, fuhr nach Hause und betrank sich.
Am nächsten Tag trafen sie sich in einem Bahnhofsimbiss, wie zwei flüchtige Bekannte. Sie war es, die ihn angerufen, und er, der den Treffpunkt vorgeschlagen hatte. Laura unternahm keinen Versuch, ihm etwas vorzumachen. Sie erzählte, dass sie eine langjährige Beziehung mit einem verheirateten Mann habe. »Es ist vorbei, aber er will es nicht wahrhaben.«
»Weiß er von mir?«, hatte er gefragt.
»Er ahnt es.«
»Weshalb sagst du es ihm nicht?«
»Ich bringe es nicht übers Herz. Er war meine erste Liebe. Er ist wie ein Vater.«
»Und wann«, fragte Taler, »gedenkst du, es ihm beizubringen?«
»Ich brauche noch etwas Zeit. Nicht viel, aber etwas. Verstehst du?«
Taler verstand nicht und war auch nicht bereit, ihr diese Zeit zu geben. Sie hörten auf, sich zu treffen.
Nach einem halben Jahr rief Laura ihn an und fragte, ob er nicht mehr zu After-Work-Partys gehe. Noch im selben Jahr waren sie zusammengezogen.
In dieser Zeit hatte er etwas über Eifersucht begriffen: Obwohl sie weiß, dass die Gewissheit viel verheerender ist als der Verdacht, ruht sie doch nicht, bis sie Gewissheit hat.
So ging es ihm jetzt wieder. Über ein Jahr nach Lauras Tod. Der Verdacht, sie könnte ihn mit ihrem Mörder betrogen haben, beherrschte ab sofort sein ganzes Denken.
Wer war der Mann mit dem Moped? Woher kannte sie ihn? Wie lange kannte sie ihn? Wie standen sie zueinander? War der Mord an ihr ein Verbrechen aus Leidenschaft?
Der Gedanke machte ihn rasend eifersüchtig auf diese Leidenschaft.
An diesem Nachmittag hatte sich das Gefühl, mit dem er an Laura zurückdachte, verändert. Er spürte nicht mehr das Bedürfnis, ihre Leibspeisen zu kochen, ihr Parfum zu versprühen, ihre Zigaretten abzubrennen, ihre Musik zu spielen. Er wollte die Illusion, sie wäre noch da, nicht beschwören, solange ihre Beziehung zu dem Mopedmann nicht geklärt war. Und damit die zu ihm.
Noch am gleichen Abend begann er, in ihren Sachen nach Spuren zu suchen. Die Polizei hatte zwar alles nach Hinweisen auf ein Beziehungsdelikt abgesucht, aber weil Taler diese Möglichkeit nie in Betracht gezogen hatte, war er keine große Hilfe gewesen.
Aber jetzt, mit diesem Verdacht im Kopf, sah es anders aus. Er wusste, wonach er suchte, kannte Laura und würde sofort stutzig werden, wenn etwas nicht ins Bild passte.
Als Erstes nahm er sich ihren Kalender vor. Er hatte ihn zwar im Rahmen der Ermittlungen mit einem Beamten durchgeblättert und da und dort weitergeholfen bei Namen oder Telefonnummern. Aber er hatte es mit einer gewissen Scheu getan. Sie hatten sich zwar bei ihrem Entschluss, ein Paar zu werden, versprochen, keine Geheimnisse voreinander zu haben. Dennoch gab es in beider Leben Bereiche, die sie gegenseitig respektierten. Lauras privater Kalender war für ihn ein solcher Bereich.
Doch jetzt ging er ohne Zögern zur Garderobe, öffnete ihre Handtasche, die sie bei ihrem Tod dabeigehabt hatte und die seither dort auf der Ablage stand, und nahm ihren in hellgrünes Leder gebundenen Kalender heraus. Er setzte sich damit ins Wohnzimmer und schlug ihn auf.
Der erste Eintrag war am sechsten Januar. Er lautete »Xema«. So hieß ihr Coiffeur. Dann folgte »Barba, Lunch«. Barba war ihre Freundin Barbara Vollger. Dann folgten eine Reihe »P« für Periode, ein Eintrag »Geb. Mama« und einer »Pass verläng.!«. Der letzte Eintrag hieß » DH «, was
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