Die Zeit, die Zeit (German Edition)
lag etwas Schuppenschnee. »Herr Taler, willkommen. Ich hoffe, Sie sind für einen kleinen Sandwichlunch zu haben.«
Er deutete auf ein silbernes Tablett mit dreieckigen Sandwiches aus sehr weißem weichem Brot. »Eine Tradition aus meinen zwölf Jahren in den Pinewood Studios. Tee? Oder machen Sie es wie ich?« Er zeigte auf ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. »Scotch. Die andere Tradition aus den Pinewood Studios.«
»Tee«, sagte Taler, und während die Frau einschenkte, stellte Ronnie sie vor: »Samantha, meine Assistentin. Aber setzen Sie sich doch.«
Sie ließen sich in die tiefen Sessel fallen, und Betrio kam zur Sache. »Jetzt bin ich aber gespannt. Ein sehr ungewöhnlicher Auftrag, haben Sie gesagt?«
Peter Taler begann, die Geschichte zu erzählen, die er sich zurechtgelegt hatte: »Ich bin befreundet mit einem älteren Herrn, und der hat einen Wunsch, der Ihnen vielleicht etwas exzentrisch vorkommen mag: Er will vor seinem Tod noch einmal einen ganz bestimmten Tag wiedererleben – den elften Oktober neunzehneinundneunzig. Ein glücklicher Tag, an dem seine Frau noch lebte. Von diesem Tag besitzt er dank eines Kameratests über zweihundert Fotos, und mit ihrer Hilfe will er diesen besonderen Tag rekonstruieren. Wir sind seit vielen Wochen an der Wiederherstellung des Gartens, eine Großgärtnerei hilft uns hier bei der praktischen Durchführung. Leider müssen wir einsehen, dass das Projekt unsere Kräfte übersteigt, vor allem damit«, er zeigte auf seinen Arm. »Es ist uns über den Kopf gewachsen.«
»Und hier kommen wir ins Spiel?«
»Richtig.«
Betrio lächelte. »Exzentrisch ist das richtige Wort. Aber ich nehme an, mit Ihrem Freund verhält es sich wie mit den meisten Exzentrikern: Er kann es sich leisten?«
»So ist es. Sind Sie interessiert?«
Betrio überlegte. »Wir haben bisher nur für Filmprojekte gearbeitet.«
»Das werden Sie auch in diesem Fall tun. Jedenfalls für alle, die fragen. Sie arbeiten für einen Film, eine Mischung aus Dokumentation und Fiktion. Die alten Aufnahmen verschmelzen immer wieder mit den neuen, und diese Übergänge müssen nahtlos sein.«
»Wie heißt der Film?«
»Weiß ich noch nicht. Irgendetwas mit Zeit.«
»Wann kann ich mir die Situation anschauen?«
»Heute Abend?«
»Einverstanden. Dann kann ich beurteilen, was auf uns zukommt. Und auf Ihren alten Herrn. Ich meine, finanziell. Und ob es terminlich für uns machbar ist.«
Dass es terminlich machbar sein würde, bezweifelte Taler nicht. Er hatte sich einen Betreibungsauszug der Set Factory besorgt.
In dieser Nacht erwachte Taler von lautem Geschrei. Durch das offene Schlafzimmerfenster hörte er einen Mann brüllen und die mal flehende, mal wütende Stimme einer Frau. Er ging zum Fenster. Der Lärm kam aus dem Schlafzimmerfenster unter ihm, Kellers Wohnung. Er konnte nichts verstehen bis auf ein Wort, das der Mann mit sich überschlagender Stimme wiederholte: »Nutte, Nutte, Nutte!«
Plötzlich war es still. Im Treppenhaus knallte eine Tür. Kurz darauf heulte ein Motor auf. Taler eilte zum Blumenfenster und sah Kellers Nissan wegfahren. Er ging zurück zum Schlafzimmerfenster. Alles still. »Du hältst das Maul. Sonst gibt es eine zweite Tote in eurem Haus«, hatte Kurt gesagt.
Vielleicht war die Polizei nicht so diskret gewesen wie er.
Immer noch still. Taler wollte schon nachsehen gehen. Aber plötzlich klang Musik herauf. Und eine Frauenstimme, die mitsang.
Am Samstagnachmittag empfingen ihn Scholters zum Kaffee. Knupp war nicht mitgekommen. Es hatte sich herausgestellt, dass er mit ihnen, wie mit den meisten Nachbarn, verkracht war, und Taler hatte in seiner neuen Zielstrebigkeit von sich aus vorgeschlagen, den Besuch allein zu machen.
Frau Scholter war Mitte fünfzig, eine hagere Frau, graumelierter Pagenschnitt und handbedrucktes Sommerkleid. Ihr Mann, mittlerer Beamter der Stadtwerke kurz vor dem Ruhestand, dichtes schlohweißes Haar, Jeans, blaues Hemd und khakifarbenes, ausgebeultes Sommerjackett. Dem Haus sah man an, dass darin Kinder groß geworden waren: Die Möbel waren abgewohnt, und überall fanden sich kindliche Zeichnungen und Handarbeiten.
Taler hatte ein ziemliches Geheimnis um seinen Besuch gemacht. Es gehe um eine große Sache, bei der er auf ihre Mithilfe angewiesen sei. Als sie Knupps alte Fotos von ihrem Haus und Garten studierten, rief Herr Scholter aus: »Regulas Lok!«
Hinter einem Strauch am Gartenweg sah ein Stück Rohr hervor, an dem Knupp
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