Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
ziehen. Dazu gehörte, dass ich den Unbekannten ausklammerte und einen »vierten Mann« ins Kalkül zog, der von außen dazugekommen war. Wie war er mitten in der Nacht hierher gekommen? Wie konnte er wissen, dass ich den Zylinder mit dem Papyrus bei mir hatte? Meine Antwort lautete: Er musste mir gefolgt sein. Das bedeutete, dass er bereits vor der Residenz auf mich gewartet hatte beziehungsweise dorthin kam, als ich die Räume der Denkmalpflege verließ. Das wiederum zog nach sich, dass er wusste, was ich mit mir führte und dass auch er in den Besitz des Papyrus gelangen wollte.
Aber wieso hatte er nicht gleich dort zugeschlagen, sondern erst hier draußen? War er mir körperlich unterlegen, oder hatte er nur auf den richtigen Moment gewartet? Und zu guter Letzt, wieso hatte er Nikola enthauptet und nicht einfach erstochen, erschossen, erwürgt oder ihn auch nur gedrängt, den Papyrus herauszugeben? Dafür musste es einen entscheidenden Grund geben.
Genauso wie für den Papierfetzen aus der Bibel, den Nikola in seiner Hand versteckt gehalten hatte. Natürlich war das ein Hinweis, dass die Stelle aus der Genesis, in der es um die Erschaffung der Welt durch Gott geht, eine Bedeutung hatte und dass es der Fingerzeig auf den Mörder war. Nur, wie lautete er? Ich erinnerte mich an die Zeilen, die Heinlein am Grab vorgetragen hatte: »Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffen hatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbracht hatte.« Der siebte Tag war eindeutig der Sonntag. Heute war Mittwoch. Würde am siebten Tag, dem Sonntag, etwas geschehen? Dann die Stelle »vollendete Gott das Werk«, die die Erschaffung der Welt beschrieb. Ging es bei der Sache vielleicht um eine neue Welt? Eine neue Ordnung? Wie sähe sie aus und welche Organisation wäre dazu überhaupt imstande? Welche Bedeutung hatte ein alter Papyrus dafür?
Zum Schluss nochmal der »siebte Tag«, an dem er, Gott, ruhte, nachdem sein Werk vollbracht war. Mir schwirrte der Kopf, denn ich hatte nicht den leisesten Schimmer, wie das alles zusammenpasste.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Mordwaffe. Es musste auf jeden Fall eine scharfe und schwere Klinge gewesen sein, um den Hieb erfolgreich zu führen. Zusätzlich musste der Mörder mit dieser Waffe, einem Schwert oder einem Hackbeil, umgehen können – und er hatte sie bei sich getragen. Ein Schwert. Wer führt ein Schwert mit sich? So ein Irrsinn. Die Waffe wäre nur schwer vor den Blicken eines Passanten zu verbergen gewesen. Also hatte sie eine Bedeutung, für die der Mörder bereit war, das Risiko der Entdeckung einzugehen. Mündete diese Risikobereitschaft in dem Ritual einer Enthauptung, bei der er Nikola hatte niederknien lassen? Und überhaupt, wieso hatte Nikola sich nicht gewehrt?
Viele Fragen für den Moment, ohne eine schlüssige Antwort. Bevor ich mich weiter auf den Mörder und die Tatwaffe konzentrierte, wollte ich Pias Ergebnisse von der Obduktion und die Auswertung aller Spuren vom Erkennungsdienst abwarten.
Somit kam ich zur alles entscheidenden Frage: Welche Motivation hatte die Person getrieben, einen Mord zu begehen? Was so viel hieß wie: Was war das Geheimnis dieses Zylinders aus Gold und des vergilbten Papyrus?
Auf diese Frage musste mir diese seltsame Signora eine Antwort geben können. Das war ja der Grund, weswegen sie eigens aus Rom angereist war. Eine grünäugige, blondblasse Kirchengeschichtlerin aus Rom. Mein Gott, was für eine Kombination.
Ich unterdrückte widerstrebend meine Aversion gegen dieses Geschöpf und ging vor die Tür, wo ich sie auf einer kleinen Bank an der Hausmauer sitzen sah. Die Bank stand halb im Schatten und halb in der Sonne. Wie ich nicht anders erwartet hatte, saß sie im schattigen Teil. Welch seltsames Verhalten für eine Römerin. Sie mied die Sonne.
Ich drückte mir die Ray Ban auf die Nase und setzte mich neben sie in die Sonne. »Ein schöner Tag. Finden Sie nicht?«
»Jeder Tag ist schön, wenn man die richtige Einstellung dazu hat«, antwortete sie. »Haben Sie Ihre mittlerweile gefunden?«
»Hören Sie, ich gebe zu, dass ich nicht sonderlich darüber erbaut bin, eine Partnerin in diesem Fall zu haben. Die Sache ist ohnehin schon kompliziert, und es geht um viel für mich in diesem Spiel.«
»Ich bin in Rom ja so einiges mit der Polizei gewohnt, aber ich habe noch nie davon gehört, dass ein Polizist im Auftrag eines Priesters einbricht und stiehlt. Was war Ihre Belohnung?«
»Dass
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