Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
Kilian starb demzufolge wegen eines sittlichen Verbots der Kirche und nicht wegen der Verkündigung der Frohen Botschaft.
In Wahrheit steht die Gailana-Theorie auf wackeligen Füßen, wie das Verhältnis der irischen Missionare zu Rom und den ihnen angedichteten Verklärungen. Dazu muss man wissen, dass viele der noch existierenden Geschichtsaufzeichnungen von angelsächsischen Chronisten angefertigt wurden, die in den Iren zugleich Konkurrenten bei der Missionierung als auch Ketzer gegen Rom sahen. Ob daher ausgerechnet ein irischer Kilian wegen des Sittengrundsatzes der römischen Kirche hatte sterben müssen und deswegen das angestrebte Martyrium erlitten haben soll, bleibt fraglich. Wahrscheinlicher ist, dass ein anderer Konflikt zu seinem tragischen Tode führte.
Wir fanden den Bischof betend vor. Er saß in einer Bank, das Haupt tief geneigt, vor dem Kiliansschrein. Die Gruft an sich war nüchtern gehalten, ohne verklärenden Firlefanz, der häufig an anderen Orten der Heiligenverehrung wuchert. Lediglich ein Kreuzweg auf sechzehn Tafeln zeigte die Leidensgeschichte Jesu, beginnend mit der Befragung durch Pilatus bis hin zur Vision des Johannes von Jesus Christus als Herrscher über Himmel und Erde. Der Leidensweg Christi wiederholte sich in Darstellungen auf dem Schrein, als Dialog zur überlieferten Geschichte der Frankenapostel. Auch sie hatten den Weg in den Märtyrertod gewählt, um dadurch an Jesu Seite ins Himmelreich zu gelangen; die Frankenapostel dienten damit allen Gläubigen als leuchtendes Vorbild. Diese Botschaft hat sich in unserer Zeit verloren. Niemand geht mehr vorsätzlich für seinen christlichen Glauben in den Tod. Das Heilsversprechen hat sich entscheidend gewandelt. Heute stehen alle lebensverlängernden Maßnahmen hoch im Kurs.
Ich steuerte geradewegs auf den Bischof zu. Yasmina hielt mich zurück. »Warten Sie. Lassen wir ihn in seiner Andacht ungestört.«
Da ich etwas über einen seiner Angestellten herausbekommen wollte, lag mir sehr an einem aufgeschlossenen Bischof, und so willigte ich ein. Yasmina und ich machten uns dadurch bemerkbar, dass wir an ihm vorbeigingen und im hinteren Teil der Gruft die Exponate bestaunten. Er blickte kurz auf, erkannte uns und versank gleich darauf wieder im Gebet.
Wie den Dom hatte ich auch die Begräbnisstätte meines Namenspatrons jahrzehntelang nicht mehr gesehen; dabei lag sie inmitten der Stadt, direkt an der Einkaufsstraße, und ich dachte mir, dass es vielen Würzburgern ebenso erging. Das, was vor der Haustür liegt, gerät in Vergessenheit, weit entfernte exotische Tempel und Paläste hingegen werden zum beliebten Thema ausufernder Urlaubsbeschreibungen. Dabei hatte die Kilians-
gruft in früheren Jahrhunderten einiges zu bieten. Pilger aus nah und fern reisten hierher, um Erlösung zu erbitten oder sich von Schicksalsschlägen zu befreien, wie es der Legende nach einem »ungläubigen Priester« namens Atalongus widerfahren sein soll. Jener hatte seinen Schülern Prügel angedroht, da sie ihm Unwissenheit über das Leben und Wirken des Kilian vorwarfen. Daraufhin wurde er mit den Worten eines Unbekannten im Traum geblendet: »Wenn du nicht glaubst, wirst du nicht sehen.« Dem Klagen folgte Reue und das Aufsuchen der Grabstelle, über der mittlerweile ein Pferdestall errichtet worden war. Sein Flehen um Vergebung wurde erhört, er gewann das Augenlicht wieder und den Glauben.
Ab da gab es kein Halten mehr. Augenkranke, Gichtund Rheumaleidende kamen in Scharen. Wundergeschichten mussten herhalten, wenn der eigene Glaube schwächelte. Die darauf folgende angelsächsische Missionierung begründete sich somit auch auf die wundersame Erhöhung eines Menschen, wenn erforderlich, auch auf den Kult um einen verhassten Iren und Gegenspieler.
Ich schaute mich im Rund der Apsis gelangweilt um, während Yasmina den Exponaten ihre Aufmerksamkeit zuwandte.
»Schauen Sie«, flüsterte sie mir zu.
Ich folgte ihr zu einem schweren Sarg aus rotem Sandstein, der an der Seite eingemeißelte Schriftzeichen aufwies.
»Hier ist der älteste Steinsarg für die Gebeine des Heiligen Kilian aus dem 8. Jahrhundert«, sagte sie. »Die Schrift dagegen stammt aus dem 13. Jahrhundert und …«
Ich ging weiter. Kilianslegenden interessierten mich nicht.
Sie ließ nicht locker. »Und hier der wohl älteste Brunnen der rechtsmainischen Stadt. Sein Wasser soll Augenleiden geheilt…«
Ich war bereits einen Schritt weiter, am Kiliansaltar, auf dem der schwere
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