Die Zeit ist nahe: Kommissar Kilians dritter Fall
zweitausend Jahre alte Nachricht hatte ich in der Hand. Unvorstellbar. Das wäre ein Ding gewesen. Die Kollegen hätten sich vor Neid in die Hose gepisst. Und jetzt? Nicht den Dreck unter dem Fingernagel habe ich jetzt mehr.«
»Und der Papyrus?«, hakte Yasmina nach.
»Ich hab ihn ja nur kurz gesehen, aber da war am Ende eine Art Unterschrift. Ziemlich krakelig, irgendwas mit ›P‹ oder ›A‹. Ein Doppelname auf jeden Fall.«
»Lateinisch oder griechisch?«
»Eine Endung auf ›us‹. Latein, römisch vielleicht, das würde einen Sinn ergeben. Mensch, eine Originalnachricht eines Kaisers vielleicht. Augustus oder Pompejus? Mann, ich könnte heulen. Ich hätte ein zweiter Schliemann sein können.«
»Und der zweite Papyrus?«, hakte ich wieder nach.
»Der Text hat mit einem großen Buchstaben begonnen. Ein ›C‹, glaube ich, und dann ein ›a‹, nein, zwei ›a‹. Ein Name, irgendwas mit ›Ca‹ oder ›Cara‹.«
»Chamar?«, fragte Yasmina.
»Chamar! Genau, das war’s, Chamar. Woher wissen Sie das?«
»Das würde mich auch interessieren«, unterstützte ich ihn.
»Chamar oder Rado, beide Bezeichnungen meinen wahrscheinlich die gleiche Person, war im Jahre 630 königlicher Kämmerer und ein paar Jahre zuvor Hausmeier im damaligen Neustrien. Dieses Neustrien stellte die merowingischen Könige, bevor das aufstrebende Haus der Austrier, aus dem Karl Martell, Pippin und Karl der Große stammten, das Frankenreich begründeten. Als ein Sohn dieses Chamar wird ein Radulf hergeleitet, was nicht unstrittig ist, und ebenjener Radulf war der erste Herzog in Thüringen, dessen Sitz damals Würzburg war.
Überliefert ist uns in einer Leidensgeschichte des heiligen Kilian, der passio minor, ein Mann namens Hruodi, der von einigen Historikern mit diesem Radulf gleichgesetzt wird, was aber fraglich ist.«
»Signora, kommen Sie bitte auf den Punkt«, unterbrach ich sie, die gänzlich in ihrem Element aufzugehen schien.
»Es gibt zwei Herleitungen. Nehmen wir mal zuerst an, dass Hruodi mit Radulf identisch ist, dann hatte dieser Mann einen Sohn Hetan, der auch als der Ältere oder als der Erste bezeichnet wird. Er soll verheiratet gewesen sein mit einer Frau namens Bilihild. Aus dieser Ehe entstand ein Sohn, der nicht näher beschrieben ist und jung gestorben sein soll. Hetan verstarb, und Bilihild blieb Witwe, die dann um 700 das Frauenkloster Altmünster bei Mainz gründete. Da es in damaliger Zeit nicht unüblich war, dass die Namen der Väter oder Großväter auf die Kinder übergingen, könnte dieser Chamar ebenjener nicht verstorbene Sohn aus dieser Ehe sein. Aber, wie gesagt, das ist rein hypothetisch.«
»Und, was sagt uns das?«, fragte ich, gänzlich überfordert.
»Dass wir den Katakombenfund zeitlich und im Kontext einordnen können«, antwortete der Archäologe.
»Die zweite Herleitung sagt Folgendes: Hetan I. hatte der passio minor zufolge zwei Söhne, von denen einer mit dem Namen Gozbert überliefert ist. Unter ungeklärten Umständen soll der andere Sohn zu Tode gekommen sein, und Gozbert soll dessen Ehefrau, die uns als Gailana bekannt ist, geehelicht haben. Aus dieser Ehe entstammt Hetan II., der 704 und 716 urkundlich erwähnt ist. Die Frage ist nun ebenso hypothetisch, ob Hetan II. vielleicht einen Bruder hatte, von dem nichts überliefert ist, aus welchen Gründen auch immer.«
»Ich komme immer noch nicht dahinter, wohin die Nachhilfestunde in Heimatgeschichte uns führen soll«, ging ich dazwischen.
»Ihr Namenspatron Kilian soll nach der passio von gedungenen Mördern jener Gailana umgebracht worden sein«, führte Yasmina fort. »Kilian war aus Irland, was damals als Scotia und später als Hibernia bezeichnet worden ist. Er war Anhänger der iroschottischen Kirche, die zu seiner Zeit im Überlebenskampf mit dem römischen Stuhl stand. Wie ein Chronist namens Beda Venerabilis uns berichtet, kam es im Jahr 664 in Whitby, einer Ortschaft an der Ostküste Englands, zu einem handfesten Streit zwischen den eigenbrötlerischen Iren und den romtreuen Angelsachsen, von denen auch Bonifatius, der Apostel der Deutschen, abstammt.
Es gibt eine Überlieferung, mehr ein Gerücht, dass während dieses Streits ein Papyrus aufgetaucht sein soll, der so genannte Herrenworte, also direkt Jesus Christus zugeschriebene Aussagen, beinhaltete. Der Papyrus verschwand, und die iroschottische Kirche zerbrach.«
»Sie meinen …?«
»Natürlich wäre es ein unvorstellbarer Zufall, wenn der Papyrus nun in
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