Die Zeit-Moleküle
verstanden? »Sie müssen jetzt gehen.«
Sir Edwin stand auf und ging hinaus zu seinen Wächtern im Korridor. Er wußte, aber er wußte nicht, wann. Sie erschossen ihn sofort, genau gezielt, aus nächster Nähe. Der Knall der Explosionen drang gedämpft durch die geschlossene Tür. Mit einem untragbaren, mit einem gewissermaßen toten Mann, so zu verhandeln, war obszön. David Silberstein verharrte lange bewegungslos hinter seinem Schreibtisch. Er dachte nichts, wie es einem Mann ohne Hoffnung zukommt.
Dann suchte er sich eine Beschäftigung, Worte, Dinge, die er mit seinen Händen fassen und erledigen konnte. Es war seine Pflicht, wenn ein Dorfbewohner untragbar wurde, sofort den Gründer zu verständigen. Daß er den alten Mann zu so früher Stunde aus dem Schlaf schrecken würde, war für David Silberstein ein kleines, boshaftes Vergnügen.
Im Hospital wurden Liza und Roses vom Kampflärm geweckt. Roses war erschrocken. Er stieg im Dunkeln aus dem Bett, zog sich seine Hose an und legte sich wieder hin. Dann wollte er das Licht anmachen; aber Liza sagte nein. Wenn draußen eine Schießerei stattfand, lockte das Licht doch nur eine Kugel an. Roses sah das ein. Er rollte sich im Bett zusammen, schlang die Hände um die Knie und beobachtete das helle Aufblitzen der Mündungsfeuer an der Decke, bis die Schatten wieder zusammenflossen. Das zog ihn zurück in seine nie weit entfernte Kindheit – Gewitter; seine Mutter, die die Spiegel zuhängte, die Vorhänge fest schloß, alle Zimmertüren öffnete und das Feuer mit Wasser löschte, falls ein Blitz durch den Schornstein hereinfuhr. Das kahle Krankenzimmer machte ihn so verwundbar. Wenn es nicht ununterbrochen geblitzt hätte, wäre er hinüber in seine Küche gerannt. Er zog sich die Decke über den Kopf.
Dann kam ein Tappen. Er spürte, wie Liza zu seinem Bett kam und sich daraufsetzte. Er spürte, wie sie seinen Kopf streichelte und dann die Bettdecke herunterstreifte. Mit festgeschlossenen Augen drängte er den Kopf an sie. Sie gab beruhigende Laute von sich. Er hörte auf, zu zittern. Sie verbreitete eine Wärme um sich. Wie frische, warme Milch. Er klammerte sich daran. Draußen verstummte der Lärm im Dorf. Liza bewegte sich auf dem Bett, aber er hielt sie fest. Er brauchte ihre Wärme als Schutz vor der neuen Stille. Sie schob die Beine unter die Decke und streckte sich neben ihm aus. Ein Widerspruch zwischen damals und jetzt, denn das war kein Nachthemd aus rauhem Flanell, kein Duft nach gelber Seife. Auch die Stimme klang ganz falsch, und die Hände waren viel zu zart. Viel zu zart …
Sein Körper ging darauf ein, während sein Geist immer noch auf der Schwelle hin und her schwankte. Jeder Nerv, den sie berührte, hatte ein Ende, das sofort in seinem Unterleib zuckte. Ein Hund hatte ihm einmal die Ohren geleckt. Es war das gleiche Gefühl, nur über seinen ganzen Körper verteilt. Seine Haut war elektrisch geladen. Und in seiner Hose wuchs sein Glied, daß er fast geschrien hätte, so viel Schmerz sammelte sich darin.
Das Mädchen in seinem Bett war nackt, streichelte nackt seinen Kopf. Sein Körper gehörte ihm allein, war seine eigene Scham. Er riß sich los von ihr, wälzte sich herum, zog die Knie an den Unterleib und fing wieder an zu zittern.
»Geh weg«, sagte er, »geh weg.« Seine Muskeln waren angespannt. Wenn sie sich bewegte, wenn sie wegrücken wollte, war er sprungbereit, sie für seine schreckliche Scham zu bestrafen.
Liza fuhr mit der Zungenspitze über den Innenrand der Lippen. Sein Ellenbogen hatte ihren Mund getroffen, als er sich herumgewälzt hatte. Sie glaubte zu schmecken, daß ihre Lippen bluteten. Sie lag still, versuchte seine Verzweiflung zu begreifen. Sie war in seinem Bett, weil sie fror und weil sie ihm Wärme und Behagen schenken wollte. Warum nahm er dieses Geschenk nicht an? Sie starrte hinauf zur Decke, die in der anbrechenden Dämmerung grau schimmerte. Nein, sie machte sich nur etwas vor. Sie hatte sich eine Lüge zurechtgebastelt und daran geglaubt. Sie hatte nur seine Angst ausgenutzt, um ihn an sich zu gewöhnen. Sie war in seinem Bett um ihn an ihrer Seite zu spüren. Sie war in seinem Bett, um sich mit ihm zu paaren.
Weshalb auch nicht? Sie hatte noch nie einen bestimmten Mann so sehr begehrt wie diesen. Und er hatte sie zurückgewiesen. Er war verklemmt in einem Ausmaß, das schon an Irrsinn grenzte. Sie versuchte Widerwillen gegen diesen halb-blöden Wilden zu empfinden, der immer noch zu einem Klumpen
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