Die Zeit-Odyssee
hatte für die
Affen, die sie einst bewohnten, eine Katastrophe bedeutet, obwohl
der evolutionäre Zenit dieser großen Tierfamilie schon
weit in der Vergangenheit lag. Einige ihrer Mitglieder hatten
sich dennoch angepasst. Die Sucherin und ihre Artgenossen
benötigten zwar immer noch den schattenspendenden Wald, wo
sie jeden Abend in die Wipfel der Bäume kletterten, doch
tagsüber flitzten sie des Öfteren hinaus ins offene
Grasland, wenn sich dort günstige Gelegenheiten boten, an
Futter zu kommen. Es war eine riskante Art, seinen
Lebensunterhalt zu bestreiten, aber es war besser als zu
verhungern. Je weiter das Zerfallen des Waldes zu
Bruchstücken fortschritt, desto mehr Waldrand stand
zur Verfügung, und der Lebensraum für diese
Grenzlandbewohner vergrößerte sich damit sogar. Und
während sie gefährlich zwischen zwei Welten hin und her
huschten, nahmen diese ohnmächtigen Affen, geformt von den
blinden Skalpellen namens Variation und Selektion, immer neue
Gestalt an.
Plötzlich ertönte mehrstimmiges Gekläff, und
auf dem trockenen Boden war das Tappen flinker Pfoten zu
vernehmen. Hyänen hatten verspätet den Geruch des
Antilopenblutes wahrgenommen und näherten sich in einer
großen Staubwolke.
Die aufrecht stehenden Affen hatten erst drei Antilopenbeine
abgehackt, aber ihre Zeit war um. Das Kleine an die Brust
gepresst rannte die Sucherin hinter ihrer Sippe her in das
kühle uralte Dunkel des Waldes.
In dieser Nacht, als die Sucherin in ihrem Baumnest aus
ineinander verflochtenen Zweigen lag, wurde sie durch etwas
geweckt. Eingerollt neben der Mutter schnarchte das Klammerchen
leise.
Es lag in der Luft, dieses Etwas, wie ein schwacher Duft, der
sich in ihre Nasenlöcher zog und nach Veränderung
roch.
Die Sucherin war ein Tier, das in seiner totalen
Abhängigkeit von der Umwelt, in die eingebettet es lebte,
auch leiseste Veränderungen wahrnahm. Aber es war mehr in
ihr als nur diese animalische Sensibilität: Wenn sie mit
Augen, die immer noch an die geringen Sichtweiten im Innern des
Waldes gewöhnt waren, zu den Sternen aufblickte, dann
verspürte sie eine rudimentäre Neugier.
Und hätte sie einen Namen benötigt, hätte er
wohl »die Sucherin« gelautet.
Es war dieser Funke Neugier, diese Art Vorfahre einer
verschwommenen Wanderlust, der ihre Artgenossen so weit aus
Afrika hinausgeführt hatte. Als die Eiszeit kräftig
zubiss, schrumpften die verbliebenen Waldstücke noch weiter
oder verschwanden vollends. Um zu überleben, mussten die
Waldrand-Affen auf schnellstem Weg die offene Ebene mit all ihren
Gefahren durchqueren, um zur nächsten Baumgruppe zu gelangen
und damit jene Illusion von Sicherheit zu erhalten, die ein neues
Zuhause vorgaukelte. Doch selbst jene, die überlebten,
machten selten mehr als eine solche Reise im Leben – eine
einzige Odyssee von mehr oder weniger einem Kilometer Länge.
Aber etliche überlebten und gediehen, und einige ihrer
Kinder zogen weiter.
Auf diese Weise hatten sich, während tausend Generationen
vorübertickten, die Waldrand-Affen langsam aus Afrika
verbreitet und waren bis nach Zentralasien vorgedrungen oder
hatten jene Landbrücke gequert, die bei Gibraltar Afrika und
Europa verband. Es war ein Vorspiel der bewussteren Wanderungen
in der Zukunft. Doch diese Affen waren stets spärlich an
Zahl und hinterließen nur wenige Spuren. Kein
Humanpaläontologe würde je vermuten, dass sie bis zu
diesem Ort in Nordwestindien – und noch weiter –
vorgedrungen waren, nachdem sie Afrika verlassen hatten.
Und nun, als die Sucherin zum Himmel hochsah, glitt ein
einzelner Stern quer über ihr Gesichtsfeld – langsam,
ruhig, so zielstrebig wie eine Katze. Der Stern war hell genug,
um einen Schatten zu werfen, bemerkte die Sucherin. In ihrem
Innern tobte ein Kampf zwischen Staunen und Furcht. Sie hob die
Hand, aber der vorbeigleitende Stern war außer
Reichweite.
So spät nachts lag Indien tief im Schattenbereich der
Erde, doch dort, wo die Oberfläche des sich drehenden
Planeten von der Sonne beschienen wurde, entstand ein Schimmern
– kleine, sich kräuselnde Farbenwellen in Braun, Blau
und Grün –, das an manchen Stellen aufflackerte wie
winzige Türen, die sich plötzlich öffneten.
Unterschwellige Veränderung umflutete den Planeten wie eine
Woge des Unheils.
Rund um die Sucherin erschauerte die Welt; sie drückte
ihr Kind fest an sich.
Am Morgen war die Sippe aufgeregt.
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