Die Zeit-Odyssee
Welt einnahm.
Doch das Klammerchen war sehr jung gewesen, und die Technik, die
es in Augenschein nahm, sehr alt und nicht mehr ganz so
vollkommen, wie sie einst gewesen war. Das Sondieren hatte es an
der nötigen Subtilität fehlen lassen, und der erst halb
geformte Geist des Klammerchens hatte einen Anstoß
bekommen.
Kein Zweifel, diese zusammengeflickte Welt würde noch
lange von den Menschenwesen dominiert werden. Doch auch sie
konnten dem Eis nicht auf Dauer die Stirn bieten. Und auf einer
gefährlichen, immer in Bewegung befindlichen Welt gab es
reichlich leeren Raum zu erkunden. Reichlich Raum für ein
Geschöpf mit Potenzial. Es gab keinen besonderen Grund,
weshalb dieses Potenzial in genau der gleichen Weise eingesetzt
werden müsste wie zuvor. Mir hatte genug Platz für
etwas anderes – etwas Besseres vielleicht.
Abwägend betrachtete das Klammerchen den schweren Stein
in seiner Hand und stellte sich verschwommen vor, was damit
anzufangen wäre. Die Tochter der Sucherin war ohne Furcht;
jetzt hatte sie die Welt zu Füßen – sie wusste
nur noch nicht genau, wo sie beginnen sollte.
Es würde ihr schon etwas einfallen.
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DIE RÜCKKEHR
Bisesa schwankte und schnappte nach Luft. Dann stand sie still
und aufrecht da. Musik spielte.
Ihre Augen waren auf eine Wand gerichtet, auf der das
überlebensgroße Bild eines unwirklich schönen
jungen Mannes zu sehen war, der in ein altmodisches Mikrofon
schmachtete. Unwirklich, ja: ein virtueller Star – die
Quintessenz der eben beginnenden unbestimmten Sehnsüchte
vorpubertärer Mädchen.
»Meine Güte, er sieht aus wie Alexander der
Große!« Bisesa konnte den Blick kaum losreißen
von den bewegten Farben der Wand, der Buntheit. Es war ihr nie zu
Bewusstsein gekommen, wie grau und trostlos Mir ausgesehen
hatte.
Die Wand sagte: »Guten Morgen, Bisesa. Dies ist dein
üblicher Weckruf. Das Frühstück steht unten
bereit. Die Schlagzeilen der Nachrichten von
heute…«
»Maul halten!« Ihre Stimme war ein
wüstensandiges Krächzen.
»Gewiss.«
Der synthetische Junge an der Wand fuhr fort, leise zu
singen.
Bisesa sah sich um. Dies war ihr Schlafzimmer, ihre Londoner
Wohnung. Alles darin erschien ihr klein, überladen. Das Bett
war groß und weich und unbenutzt.
Sie ging zum Fenster. Schwer versanken die Militärstiefel
im Teppich, wo sie Spuren aus rostrotem Staub hinterließen.
Der Himmel draußen war bleifarben, aber die Sonne ging
gerade auf, und die Silhouette der Stadt trat aus dem flachen
Grau in die Dreidimensionalität.
»Wand.«
»Ja, Bisesa?«
»Welches Datum haben wir?«
»Dienstag.«
»Das Datum!«
»Ah. Den neunten Juni 2037.«
Der Tag nach dem Hubschrauberabsturz. »Ich sollte doch
in Afghanistan sein…«
Die Wand hüstelte leise. »Nun ja, ich bin schon
gewöhnt an deine impulsiven Planänderungen, Bisesa. Ich
erinnere mich, wie du damals…«
»Mama?«
Ein leises, schläfriges Stimmchen. Bisesa drehte sich
um.
Sie war barfuß, streckte den Bauch heraus und rieb sich
ein Auge mit der Faust; ihr Haar war völlig verheddert
– eine verschlafene Achtjährige. Sie trug ihren
Lieblingspyjama, auf dessen Vorderseite Zeichentrickfiguren
tanzten und der ihr schon um mindestens zwei Größen zu
klein war. »Du hast gar nicht gesagt, dass du nach Hause
kommst.«
Irgendetwas in Bisesas Innerem brach auf, und sie streckte die
Arme aus. »Ach, Myra…«
Myra zuckte zurück. »Du riechst aber
komisch…«
Erschrocken blickte Bisesa an sich selbst hinab. In ihren
orangefarbenen Fliegersachen, abgenutzt und zerrissen und mit
schweißnassem Sand bedeckt, wirkte sie in dieser Wohnung
des einundzwanzigsten Jahrhunderts so deplatziert, als hätte
sie sie in einem Raumanzug betreten.
Sie zwang sich zu einem Lächeln. »Ich glaube, ich
brauche eine Dusche. Dann essen wir Frühstück, und dann
erzähle ich dir alles genau…«
Das Licht veränderte sich um eine Nuance. Bisesa drehte
sich zum Fenster. Ein Auge schwebte über der Stadt wie ein
Sperrballon. Sie konnte nicht abschätzen, wie weit entfernt
es war oder wie groß.
Und über den Dächern von London ging eine
unheilvolle Sonne auf.
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