Die Zeitensegler
geschwächt. Ich muss mich regenerieren. Aber dazu benötige ich Hilfe. Deine Hilfe.«
Simon stutzte. »Meine Hilfe?«
Der Schattengreifer hob mit Mühe seine Lider. Die schwarzen Augen suchten Simons Blick. »Wie ich schon sagte, du kannst mir beim Sterben zusehen und hoffen, dass damit alles vorüber ist. Vielleicht findest du selbst den Weg zurück zu dir nach Hause. Du kannst mir aber auch helfen, wieder zu Kräften zu kommen, und dir meinen Plan erläutern lassen. Du kannst all die Antworten erhalten, nach denen du so fieberhaft forschst. Doch dafür brauchst du mich lebend.«
Simon dachte nach. Was für eine Verantwortung! Er sah durch die schmutzigen Fenster der Kajüttür nach draußen. Die Zeitenkrieger hatten sich auf Deck versammelt. Sie standen neben dem abgebrochenen Hintermast und schienen lebhaft zu diskutieren. Sie ahnten nichts von alledem, was hier drin vor sich ging. Doch was auch immer jetzt geschehen würde, auch ihr Leben hing davon ab. Starb der Schattengreifer, dann waren sie vermutlich frei. Wenn er jedoch überlebte … welches Schicksal wäre ihnen dann beschieden?
Sie waren Teil eines großen Plans. Doch Simon hegte weiter Zweifel daran, dass sich hinter diesen Worten etwas Gutes verbarg. Der Schattengreifer hatte ihn nicht überzeugt.
Da traf Simons Blick den von Neferti. Sie sah ihm besorgt entgegen. Doch kaum hatten sich ihre Blicke getroffen, entspanntensich ihre Züge, und Simon wurde sich der Tiefe ihrer Freundschaft bewusst – aber auch des hohen Vertrauens, das sie in ihn steckte. Des Vertrauens, das alle Zeitenkrieger ihm schenkten.
Er seufzte. Von dieser Entscheidung hing zu viel ab!
»Nun Simon, was ist dein Entschluss? Du musst dich beeilen, wenn der Tod dir die Entscheidung nicht abnehmen soll.«
Hier stand er, mit der Verantwortung für mehrere Menschenleben. Konnte man so etwas überhaupt abwägen?
»Deine und meine Zeit läuft«, mahnte der Schattengreifer. »Jeder Atemzug kostet mich Lebenskraft.«
Simon nickte. Er hatte seine Entscheidung gefällt. »Was kann ich tun?«
Die Stimme in seinem Kopf klang erleichtert: »Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen müssen, Simon. Ein Geheimnis, das dir helfen wird, mir Linderung zu verschaffen.«
»Welches Geheimnis? Was muss ich wissen?«
»Ich reise durch die Zeit, wie du weißt. Ich bewege mich durch alle Epochen, in allen Kontinenten. Doch auch mein Leben hat einen Ursprung. Auch bei mir gab es einen Moment, in dem alles begann. Einen Ort, wo alles seinen Anfang nahm. Nur dieser Ort kann mir die Kraft geben zu gesunden. Einzig die Wurzel meiner Existenz kann mich wieder erstarken lassen.«
»Ihr sprecht in Rätseln. Ich weiß noch immer nicht, was genau ich tun soll.«
»Erde«, antwortete der Schattengreifer und seine Stimme klang noch schwächer als zuvor. »Muttererde. Ich muss in der Erde ruhen, aus der ich gekommen bin. Sie allein verleiht mir die Kraft zur Regeneration.« Er schloss die Augen. »In deiner Hand hältst du den Schlüssel zu meinen Gemächern. Es existiertdort eine Kiste, in der sich Erde meiner Heimat befindet. Diese Erde bring mir. Verstreu sie hier auf meinem Lager, sodass ich Heimat einatmen kann. Das wird mich wieder aufbauen.«
»Eure Gemächer?«, wiederholte Simon erstaunt. »Wo finde ich sie?«
Der Schattengreifer ignorierte seine Frage. »Du wirst nach mir der erste Mensch sein, der meine Hallen betritt. Der Erste, der diese Reise nach mir wagt. Ich hoffe, es gelingt dir.«
»Wie komme ich denn dorthin?«
Mit allerletzter Kraft hob der Schattengreifer einen Arm und wies mit seiner Klaue auf die Krähe, die ihm zu Füßen am Tischende saß.
»Sie wird dich führen.«
Simon erschrak. Wo war plötzlich die Krähe hergekommen? Er war die ganze Zeit allein mit dem Schattengreifer in der Kajüte gewesen. Wie war sie hier hereingekommen? Die Tür war verschlossen.
»Vertrau dich der Krähe an«, empfahl der Schattengreifer. »Sie ist mir ein treuer Freund und Begleiter. Sie wird dich leiten. Ihr kannst du …«
Die Hand sank herunter. Die Stimme in Simons Kopf verebbte. Der Schattengreifer lag in den letzten Zügen.
Simon starrte die Krähe an. »Was soll ich tun?«, fragte er.
Die Krähe nickte mit dem Kopf. Kurz nur. Dann erneut. Ein leichtes Zucken. So als wolle sie Simon herbeirufen.
»Kannst du nicht sprechen wie die anderen hier?«, fragte er sie. Die Krähe zuckte erneut.
Simon trat näher an sie heran. Ihre Augen. Ihre Blicke. Er beugte sich vor, dicht an ihr Gesicht.
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