Die Zeitensegler
Die Krähe nickte ein letztes Mal, dann hielt sie ihren Blick fest auf Simon gerichtet.
Von weit her erklangen Beschwörungsformeln. Möglich, dass der Schattengreifer sie in diesem Moment flüsterte. Es wollte Simon nicht gelingen, die Quelle all dessen auszumachen. Wie hypnotisiert streckte er beide Hände aus und ergriff den Kopf der Krähe. Er zog sie zu sich heran, seine Augen waren starr auf ihre gerichtet.
Alle Gedanken fuhren aus seinem Gehirn. Er fühlte sich leer, befreit.
Etwas ging in seinem Körper vor sich. Seine Haut fühlte sich heiß an. Für einen Moment war Simon abgelenkt und er schielte kurz auf seine Arme. Schwarze Spitzen kamen dort aus den Poren hervor. Sie wuchsen an und entwickelten sich zu Federn. Mehr und mehr.
Simon ließ es einfach geschehen. Er dachte nicht nach, sondern konzentrierte sich wieder auf die Krähe.
Und plötzlich entstand ein Sog. Beinahe so, als würde Simon in die Augen der Krähe gezogen. Er fiel in ein Nichts. Alles um ihn herum wurde schwarz. Er selbst löste sich ebenfalls auf. Er vereinte sich mit dem Schwarz um sich herum, bis er ein Licht erkannte, das schnell auf ihn zukam und sich mehr und mehr vergrößerte. Es gab einen Ruck, der Simon schmerzhaft durch den ganzen Körper fuhr, dann schlug er hart auf.
Er ächzte.
Es brauchte einige Zeit, bis er zu sich kam. Bis er sich bewusst wurde, wo er sich befand: im Reich des Schattengreifers.
Er lag auf einem kalten, unebenen Steinboden. Alles um ihn herum schien von dieser Kälte ergriffen zu sein.
Langsam öffnete er die Augen. Ein grünliches, schimmerndes Licht umgab ihn, das ihn an das Meer Karthagos erinnerte, als er mit seinen Freunden dort hindurchgetaucht war.
Noch immer war er etwas benommen und mühte sich vergeblich aufzustehen. Alles drehte sich um ihn. Es schien beinahe, als müsse sich sein Körper erst wieder daran erinnern, wie es war, aufrecht zu stehen, und als müssten seine Beine sich neu daran gewöhnen, sein Gewicht zu tragen.
Die Federn auf seiner Haut zogen sich zurück. Die Hitze in seinem Inneren verebbte.
Er stützte sich an einer Wand ab. Doch rasch zog er die Hand wieder zurück. Feucht und schmierig hatte sie sich angefühlt.
Erst jetzt sah sich Simon in seiner Umgebung richtig um. Eine schier endlos lange Halle, riesig hohe Wände und mächtige Säulen umgaben ihn. An der Decke weit über ihm erkannte er die Reste eines gigantisches Gemäldes: Unterwasserlandschaften mit zahlreichen Details schimmerten ihm entgegen. Doch die Decke war die einzige Stelle in diesem Raum, an der Farbe zu finden war.
Alles andere um Simon herum war grau und trist und schien dem Verfall preisgegeben.
In dünnen Rinnsalen floss schmutziges Wasser die Säulen und Wände herunter. An manchen Stellen hatte sich bereits Schimmel gebildet. Keinesfalls war dies ein Ort, an dem man leben mochte, dachte Simon noch, bevor er sich an seinen eigentlichen Auftrag erinnerte: die Kiste mit der Erde.
Er spielte mit dem Schlüssel in seiner Hand und sah sich nach den Gemächern des Schattengreifers um.
Die Krähe machte mit einem kurzen Schrei auf sich aufmerksam, dann flog sie voraus.
Simon verstand. Er rannte ihr hinterher, die lange Halle entlang. Seine Schritte hallten in diesen mächtigen Fluren laut wider.
Schon bog die Krähe ab und landete vor einer riesigen Eichentür.
Simon nahm den Schlüssel hervor und steckte ihn ins Schloss. Es klackte. Vorsichtig drückte er die vergoldete Klinke herunter und öffnete die Tür.
Ein Bett. In diesem mächtigen Saal schien sich nur dieses eine Bett zu befinden. Sonst sah Simon keine Möbel, keine Vorhänge oder Teppiche. Nicht einmal einen Kerzenleuchter konnte er entdecken. Der Begriff »Gemächer« erschien Simon völlig unangebracht. Doch dann dachte er wieder, dass genau dies zum Wesen des Schattengreifers passte. Er besaß nur das, was er wirklich benötigte. Kein Schmuck, keine Verkleidung. Ein Schiff zum Reisen, ein Bett zum Schlafen. Es passte zusammen.
Noch einmal schrie die Krähe kurz auf. Sie war auf eine Kiste geflogen, die hinter der Tür in einer Ecke stand.
»Ist sie das?«, fragte Simon die Krähe. »Ist das die Kiste, nach der wir suchen?«
Er kniete sich davor und öffnete den Deckel. Fauliger, erdiger, modriger Geruch stieg ihm in die Nase. Er hatte gefunden, wonach er suchte: die Heimaterde des Schattengreifers.
Wie lange er bereits hier saß, das hätte Simon nicht abschätzen können. Wann er sich den Stuhl vom Ende des Tisches
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