Die Zeitensegler
reglos am Boden lag. Seine Krähe, die noch um ein Vielfaches größer war als die fünf, die in den Mastkörben des Seelensammlers lebten, saß ruhig an seiner Seite. Die anderen hatten sich auf der Reling versammelt und beobachteten das Geschehen.
Eine bedrückende Spannung lag in der Luft. Niemand wusste so recht, wie er sich verhalten sollte.
»Wir könnten ihn in die Kajüte bringen«, schlug Simon schließlich vor. »Dort gibt es doch bestimmt eine Möglichkeit, ihn hinzulegen, oder?«
Salomon zog die Schultern hoch. »Das können wir dir nicht sagen. Keiner von uns war jemals dort drin.«
»Du meinst …«
»Der Raum ist allein dem Schattengreifer zugänglich. Wir haben die strikte Anweisung, die Kajüte niemals zu betreten.«
»Aber das hier ist doch ein Notfall, oder?«, erwiderte Simon. »Es geht ja schließlich um ihn selbst.«
Nin-Si gab ihm recht: »Wir sollten den Schattengreifer in die Kajüte bringen.«
Ihnen allen schauderte bei dem Gedanken, den Schattengreifer anzufassen, doch es half nichts. Sie postierten sich rings um die große Gestalt: Moon und Simon an den Armen, Neferti und Salomon an den Füßen und Nin-Si an der Seite des Schattengreifers, um den Körper zu stützen.
»Fertig?« Simon ging in die Hocke und machte sich bereit, das Handgelenk zu umfassen. Die dürre Klaue daran ließ ihn innerlich erbeben. Auf keinen Fall wollte er sie berühren müssen. Sorgsam schob er den Ärmel des Mantels ein Stück vor, bevor er zupackte.
Die Zeitenkrieger waren ebenfalls so weit.
»Dann bei drei«, gab Simon vor und zählte an.
Mit einem Ruck hoben sie den Schattengreifer hoch – und waren überrascht, wie leicht der Körper war. Simon hatte eher den Eindruck, ein Stück Papier in die Luft zu heben als die Gestalt eines erwachsenen Menschen.
Es schauderte ihn. Wie wenig sie doch noch immer über den Schattengreifer wussten! Ein Blick auf seine Freunde verriet ihm, dass es ihnen ähnlich erging und dass sie, ebenso wie er, schon jetzt den Moment herbeisehnten, in dem sie den Schattengreifer wieder loslassen konnten.
Sie trugen ihn zur Tür der Kajüte. Wie Simon geahnt hatte, war sie verschlossen. Die anderen sahen sich ratlos an. Sie wussten ebenso wenig wie Simon, wo sich der Schlüssel befand.
Aber Simon wollte nicht länger zögern. Er trat zweimal kräftig gegen das Schloss und die Tür flog auf.
Die Kajüte war beinahe leer. Damit hatte Simon nicht gerechnet. Er hatte eine typische Kapitänskajüte erwartet, mit Karten auf riesigen Tischen und einem übergroßen Globus. Natürlich auch Bilder von Schiffen an den Wänden und Schränke, in denen sich Geschirr und Flaschen befanden.
Doch in diesem Raum befand sich lediglich ein langer Tisch, an dessen Kopfende ein Stuhl stand.
»Lasst ihn uns auf dem Tisch ablegen«, schlug Salomon vor. Seiner Stimme war anzuhören, wie unbehaglich er sich hier fühlte. Auch den anderen Zeitenkriegern war ihre Angst anzumerken. Hastig brachten sie den Schattengreifer zu dem Tisch in der Mitte der Kajüte und sahen dann zu, dass sie den Raum schnell wieder verließen.
»Komm, Simon!« Die anderen drei Zeitenkrieger waren schon draußen, nur Salomon stand noch an der Tür.
»Ich bleibe noch einen Moment«, antwortete Simon zu Salomons Entsetzen.
»Nein, komm da raus! Wir dürfen nicht …«
Simon hob eine Hand. »Ich weiß. Ich will mich nur mal umsehen und …« Er trat an den Tisch, auf dem der Schattengreifer lag. »… und für ihn hier sein, falls er erwacht.«
Salomon wirkte nicht überzeugt, gab jedoch nach: »Das musst du selbst entscheiden«, sagte er nur und schloss die Tür der Kajüte hinter sich.
Simon blickte sich um. Dieses Mal jedoch genauer. Die Kajüte war dunkel und karg. Er hätte in diesem Raum des Schattengreifers wenigstens dicke Bücher voller Formeln erwartet – wenn es schon keine nautischen Geräte und Karten gab. Vielleichthätte er sich nicht einmal über Kristallkugeln, magische Ringe und verzauberte Spiegel gewundert.
Simon lächelte. Nein, alles passte zusammen. Der Schattengreifer war kein Magier im eigentlichen Sinne. Das wurde Simon jetzt deutlich bewusst. Ihm ging es nicht um die Magie. Der Zauber diente ihm lediglich dazu, sein Ziel zu erreichen. Was immer das auch war. Alles an ihm und alles um ihn herum diente nur einem einzigen Zweck: sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Die Magie war ihm nur Mittel zum Zweck. Ebenso wie der Seelensammler und auch … ja auch die Zeitenkrieger waren für ihn nur –
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