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Die Zeitfalte

Die Zeitfalte

Titel: Die Zeitfalte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Madeleine L'Engle
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Wallace vor und drosch mit aller Kraft auf den Mann ein; und da er sich oft genug gegen die Zwillinge zur Wehr gesetzt hatte, fielen seine Fausthiebe keineswegs schwach aus.
    »Charles!« schrie Meg entsetzt.
    Die Männer in den schwarzen Schürzen wollten sich auf ihn stürzen, aber der Mann auf dem Thronsessel hob bloß den Finger einer Hand, und sie wichen wieder zurück.
    »Laß das!« zischte Calvin ihm zu, und gemeinsam mit Meg packte er Charles und zerrte ihn wieder von der Plattform herunter.
    Der Mann stöhnte leise, und die Stimme, die in ihre Gehirne drang, klang ein wenig atemlos, als hätte Charles Wallace ihr mit seinen Boxhieben die Luft geraubt. »Darf ich dich fragen, warum du das getan hast?«
    »Weil Sie nicht – nicht Sie selbst sind!« sagte Charles Wallace. »Ich weiß nicht, wer Sie sind, aber Sie« – und er wies mit dem Finger auf den Mann im Thronsessel – »sprechen gar nicht mit uns. Es tut mir leid, Ihnen wehgetan zu haben. Ich dachte, Sie seien nicht echt. Ich hielt Sie für einen Roboter, denn ich spüre, daß nichts, absolut nichts von Ihnen ausgeht. Ich weiß nicht, von wem sonst, aber jedenfalls nicht von Ihnen. Sie sind nur – nur ein Sprachrohr.«
    »Du bist ganz schön gerissen!« stellte die Gedankenstimme fest, und Meg hatte das untrügliche Gefühl, daß sie jetzt etwas verärgert klang.
    »Das hat nichts mit Schläue zu tun«, sagte Charles Wallace, und Meg spürte, daß er wieder in den Händen schwitzte.
    »Willst du nicht trotzdem versuchen, herauszubekommen, wer ich bin?« stichelte die Stimme.
    »Das versuche ich doch schon die ganze Zeit«, gab Charles Wallace erbittert zu.
    »Schau mir in die Augen. Schau mir tief in die Augen, und ich werde es dir verraten.«
    Charles Wallace warf Meg und Calvin einen raschen Blick zu und sagte, wie zu sich selbst: »Ich habe keine andere Wahl.« Dann richtete er seine wasserblauen Augen auf die roten Augen des Mannes, der in dem großen Stuhl saß.
    Meg beobachtete nicht den Mann, sondern das Gesicht ihres Bruders. Schon nach kurzer Zeit begann sich sein Blick zu trüben. Die Pupillen schlössen sich mehr und mehr, als starre Charles Wallace in ein gleißendes Licht. Sie verengten sich so sehr, daß sie zuletzt beinahe zur Gänze verschwanden und nichts mehr zu sehen war als das Blau der Iris.
    Langsam löste Charles seine Hände aus dem Griff von Meg und Calvin und begann wie im Traum auf den Mann auf der Plattform zuzugehen.
    »Nicht!« rief Meg ihm zu. »Nicht!«
    Aber Charles Wallace taumelte unbeirrt weiter, und Meg erkannte, daß er sie gar nicht gehört hatte.
    »Nein!« brüllte sie und sprang ihm nach. Sie stürzte sich auf ihn, bekam ihn aber so ungeschickt zu fassen, daß er der Länge nach hinfiel; mit einem dumpfen Knall schlug sein Kopf auf dem Marmorboden auf. Weinend fiel Meg neben ihm auf die Knie.
    Erst blieb Charles Wallace reglos, wie betäubt, liegen; dann öffnete er langsam die Augen, drehte vorsichtig den Kopf hin und her und setzte sich auf. Seine Pupillen weiteten sich allmählich, bis sie ihre ursprüngliche Größe erreicht hatten, und seine Wangen bekamen wieder etwas Farbe.
    Der Mann im Thronsessel sprach jetzt unmittelbar in Megs Gehirn, und es war eine offene Drohung: »Das gefällt mir nicht, Meg. Es könnte leicht geschehen, daß ich mit dir die Geduld verliere. Und das – laß es dir gesagt sein, junge Dame! – würde deinem Vater ungemein schaden. Wenn du wirklich auch nur im geringsten die Absicht hast, deinen Vater wiederzusehen, wirst du dich von nun an fügen müssen.«
    Meg reagierte darauf so, wie sie sich in der Schule verhielt, wenn sie zu Direktor Jenkins gerufen wurde: sie starrte wütend und trotzig zu Boden. Schließlich sagte sie vorwurfsvoll: »Das kommt alles nur davon, daß man uns nichts zu essen gibt. Wir sind bereits halb verhungert. Wenn Sie uns schon an den Kragen wollen, dann gönnen Sie uns wenigstens zuvor eine Henkersmahlzeit.«
    Wieder brach die Gedankenstimme in herzhaftes Lachen aus. »Sehr witzig, das kleine Ding! Dein Glück, daß du solche Spaße machen kannst, meine Liebe, sonst wäre ich längst nicht so nett zu euch. Die beiden Jungen finde ich nämlich bei weitem nicht so amüsant. Ach was, auch gut. Jetzt verrate mir aber eines, junge Dame: wenn ich euch zu essen gebe, werdet ihr dann aufhören, so widerborstig zu sein?«
    »Nein«, sagte Meg.
    »Nun, Hunger kann wahre Wunder wirken … « mahnte die Stimme. »Ich wende derart primitive Methoden zwar nur

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