Die Zeitmaschine Karls des Großen (German Edition)
nächsten kommt. Ich möchte wetten, dass die im ganzen Reich zusammengezogenen Handwerker Karl dort einen Palast und eine Kirche bauen sollen. Aber ob das alleine Grund genug ist für die totale Absperrung des Gebiets … na, wir werden sehen. Unser Karl hat seine Bischöfe selbst ernannt, die Sachsen unterworfen und zwangsbekehrt, allerdings mit viel mehr Mühe, und schließlich hat er den Titel eines Römischen Kaisers getragen. Was die Juden betrifft … sie waren die einzigen Fernhändler im heruntergekommenen Europa, und Sklaven waren eine ihrer wichtigsten Waren. Ich habe natürlich keine Ahnung, was da genau vorgefallen ist, aber irgendwie hat der König von Larue den ursprünglichen Verlauf der Geschichte erfahren.«
Er überlegte einen Moment, dann fuhr er fort. »Was die Befürchtungen deines Vorgesetzten angeht … ich könnte mir gut vorstellen, dass Karl sich um seinen Platz in der Geschichte betrogen sieht. Ich meine, im Originalablauf war er der Herr Europas, und hier? Ein zweitklassiger Provinzkönig, und wenn ich das richtig verstanden habe, ist er sogar durch einen ziemlich demütigenden Geheimvertrag ans Imperium gebunden. Wenn dieser Karl unserem im Charakter ähnelt, dann halte ich es für gut möglich, dass er versucht, sich mit List und Gewalt zu nehmen, was ihm aus seiner Sicht eigentlich zusteht. Und das heißt …«
»Rom!«, entfuhr es Andreas. »Mein Gott! Franklin, du musst mir helfen, das zu verhindern! Wir müssen …«
Aufgeregt war Andreas vom Stuhl aufgesprungen, aber Franklin bedeutete ihm mit einer beschwichtigenden Geste, sich wieder zu setzen.
»Immer mit der Ruhe, nur nichts überstürzen. Als Erstes müssen wir sehen, dass wir Larue finden, denn er ist der Schlüssel zu allem. Und ich könnte mir gut vorstellen, dass ein so wertvoller Gefangener an einem außergewöhnlich gut gesicherten Ort bewacht wird …«
»Aachen!«
»Wir haben den gleichen Gedanken. Gut, dann wollen wir uns mal in Aachen umsehen. Aber erst mal bin ich neugierig, wie denn die Geschichte dieser verrückten Welt aussieht. Erzähl doch mal, was hinter der Sache mit diesem Rufus Scorpio steckt, der Odoaker besiegt hat …«
12
Im Palast Karls
Im Schein eines dreiarmigen Kerzenleuchters saß Karl vor dem aufgeschlagenen Buch. Sein Zeigefinger fuhr schleichend die Zeilen entlang, mühsam entzifferte der Frankenkönig Wort für Wort. Aber wie jedes Mal, wenn er zu lesen oder schreiben versuchte, verschwammen die Sätze bald zu Reihen sinnloser, wirrer Zeichen, die ihn zu verspotten schienen. In einem Ausbruch von Zorn griff er das Buch und schleuderte es mit solcher Kraft gegen die Wand, dass beim Aufprall mit grellem Krachen der Einband barst und die Seiten einzeln zu Boden fielen.
Der hünenhafte Mann stützte seinen Kopf in die Hände und biss sich in einer Mischung aus Wut und Hilflosigkeit auf die Unterlippe. Seit seiner Kindheit kämpfte er mit seinem Geist, der sich wieder und wieder geweigert hatte, in den geschriebenen Sätzen und Wörtern das zu erkennen, was alle Welt scheinbar mühelos zu verstehen imstande war. Man hielt ihn für einen Analphabeten, das wusste er, und es bedrückte ihn schon, solange er denken konnte. Nachdem er durch das Große Wunder erfahren hatte, dass sein mächtiges Gegenstück in der Welt des Wahren Willens wohl unter den gleichen Problemen zu leiden gehabt hatte, ließ er wie dieser die Begründung verbreiten, die Hand eines Kriegers sei nicht dazu geschaffen, die Feder zu halten. Doch das hatte nichts an dem Gefühl ändern können, einer Fähigkeit zu entbehren, die selbst ein Bauernkind mühelos erlernte, wenn man ihm nur die Möglichkeit dazu gab.
Er stand vom Tisch auf und ging ziellos im Raum auf und ab. In dieser Nacht raubte ihm wieder die Wahl, die er zu treffen hatte, die Ruhe, und je näher der Zeitpunkt rückte, an dem eine Entscheidung unausweichlich wurde, desto drückender schien ihm die damit einhergehende Last.
Karl blieb am weit geöffneten Fenster stehen und sah hinaus auf das schlafende Trevera, aber er nahm den Anblick nicht wirklich wahr; viel zu sehr beschäftigte ihn die Frage, was er tun sollte. War es besser, auf Einhard zu vertrauen und geduldig zu warten? Oder sollte er zugunsten von Wibodus entscheiden, der einen schnellen, greifbaren Erfolg dank Einhards Vorarbeit nun bald mühelos erringen konnte? Bis vor Kurzem hatte er geglaubt, die Lösung vorzuziehen, die der General ihm bieten konnte. Doch dann hatten
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