Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
ist nicht meine Realität!
Schnell schlüpfe ich in ein paar pinke Turnschuhe, die wie angegossen sitzen, dann reiße ich die Tür auf und taumle die gläsernen Stufen hinunter, die von langen Stahlseilen gehalten werden und mich in Mr und Mrs Whites Wohnzimmer führen. Auch hier ist die Front verglast, ein Holzdeck schließt sich dem Haus an, von dem aus einige Stufen zum Strand führen. Alles wirkt ungepflegt, das Holz ist von Grünspan überzogen, ein Sonnenschirm liegt halb geöffnet auf der Erde, lange Gräser haben sich zwischen den Bohlen eingenistet und in einer über das Meer getriebenen Brise trudelt eine Plastikflasche über das Holzdeck.
In der Sonne ausgestreckt liegt der zottige Hund und sieht mich trübe an. Ich klopfe an die Scheibe, doch das Tier legt sich auf die Seite, ohne mich weiter zu beachten. Also drehe ich mich um. Im Wohnzimmer stehen bis auf zwei weißlackierte Stühle überhaupt keine Möbel mehr, nur stapelweise Kisten mit der Aufschrift » We Move You «. Es riecht nach kaltem Zigarettenrauch und als ich mit weit geöffneten Augen weitergehe, entdecke ich einen überquellenden Aschenbecher auf einem der Umzugskartons. Daneben eine leere Flasche Gin und einen käseverklebten Pizzakarton, auf dem sich bereits Schimmel gebildet hat. Angewidert schließe ich den Deckel und schiebe mich zwischen den Kisten hindurch in Richtung Küche, aus der ich meine, ein Klappern vernommen zu haben. Die Tür steht offen.
»Mum?«, stoße ich aus. »Wieso - Ich verstehe nicht, was machst du …« Eine Sekunde später bin ich bei ihr, umklammere ihren Körper. »Mum, ich – hab …«
Meine Worte gehen in Schluchzen unter und ich kann die Tränen nicht mehr zurückhalten. Ich fliege auf meine Mutter zu, die in einen türkisen Morgenmantel gehüllt am Tresen von Mrs Whites Küche lehnt. Es kommt mir vor, als hätte ich meine Mutter seit Jahren nicht gesehen, und ich bin unendlich erleichtert, dass sie da ist, auch wenn ich nicht verstehe, warum. Jetzt wird alles gut. Doch noch während ich mein tränenbenetztes Gesicht in ihren Bademantel drücke, merke ich, dass nichts gut wird. Meine Mutter erwidert meine stürmische Umarmung nicht. Ihre Hände hängen schlaff an ihrem Körper herunter, sie fühlt sich mager an, kraftlos. Widerwillig trete ich zurück.
Sofort greift Mum nach einer auf dem Tresen liegenden Schachtel, fingert eine Zigarette heraus und hält mir mit zittriger Hand die Packung hin. »Auch eine?«
Ich sehe sie entsetzt an. »Ich rauche nicht. Das weißt du doch. Und du auch nicht! Mum, was soll das?«
»Sicher«, erwidert sie, hustet trocken und drückt mit dem Daumen das Feuerzeug, aus dem eine bläuliche Flamme züngelt. Die Zigarette brennt knisternd ein Stück herunter. Diesmal ist es der Rauch, der mir die Tränen in das Gesicht treibt.
»Meine Frage mag dir jetzt merkwürdig vorkommen, aber wie viele Kinder hast du?«, frage ich rundheraus und blinzle.
Meine Mutter lacht auf.
»Zwei!«, antwortet sie und tippt die Zigarette auf einen leeren Joghurtbecher, so dass die Asche abfällt. Ich schließe kurz die Augen und danke dem Himmel. Alles andere bekommen wir hin.
»Ein großes und ein kleines Kind. Deinen Vater und dich.« Mum legt den Kopf in Nacken und lacht heiser.
Ich fühle, wie etwas in mir zerbricht. »Dad? Aber - Wo ist Jeremy? Habe ich denn keinen Bruder?«
Das Lachen meiner Mutter gefriert und sie stiert mich an. Erst jetzt bemerke ich, dass ihr Blick glasig ist. »Das ist nicht witzig, Alison. Du weißt genau, wo dein Bruder ist.«
»Sag du es mir. Wo?«
»Du bist grausam«, antwortet die Frau, die nur aussieht wie meine Mutter, die mir fremder nicht sein könnte. Jetzt nimmt sie ein Glas und umkreist es mit dem Finger, bis es einen heulenden Ton erzeugt. Ich lehne mich vor und rümpfe die Nase. Die klare Flüssigkeit riecht nach Schnaps, den Mum mit wenigen Schlucken in sich hineinkippt.
»Wo ist Jeremy?«, frage ich mit Nachdruck und reiße meiner Mutter das fast geleerte Glas aus der Hand.
Sie lässt es widerspruchslos zu. »Mein Gott, Alison, man könnte meinen, du trinkst, nicht ich. Du benimmst dich äußerst merkwürdig.«
»Jeremy!«, schreie ich.
»Was bist du nur für ein Mensch!« Mum verzieht angewidert die Mundwinkel. Sie sieht mich so voller Abscheu an … ich erkenne sie nicht wieder. Als sie sich auch noch umdreht, eine weitere Flasche Schnaps aus dem Schrank zieht, möchte ich sie am liebsten schütteln, bis sie wieder zu Verstand kommt.
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