Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
Stattdessen sehe ich wortlos zu, wie sie zum Fenster geht und auf das Meer starrt. Ich schaue traurig auf ihre ausgemergelte Gestalt, um die der Bademantel schlottert, und ein Klicken verrät mir, dass sie sich eben eine weitere Zigarette angezündet hat. Leise trete ich hinter sie, lege meine Hand auf ihre, die sich knöchern um die Flasche spannt.
»Mum, tu das nicht«, flüstere ich. »Du musst nicht trinken. Wir finden einen Weg … hier raus.«
»Wären wir doch nie hier hergezogen«, murmelt sie, als hätte sie mich nicht gehört, befreit sich und löst den Verschluss der Flasche.
Widerwillig trete ich zurück. Ich muss mich behutsam herantasten, denn ich spüre, dass sie sich jeden Moment vollkommen verschließen wird.
»Wie lange ist das noch mal her?«
»Rühr nicht in alten Wunden, okay, Alison? Nach so vielen Jahren muss man die Dinge ruhen lassen, sie verkraften lernen, irgendwie.« Mum schweigt eine Weile. Sie hängt ihren Gedanken nach, ich kenne diesen Ausdruck. »Ach, hätten wir unser Waldhäuschen doch nie verlassen.«
»Aber, wo wohnen denn jetzt Carissa und Mr und Mrs White?«
»Wer?«, fragt Mum geistesabwesend.
»Unsere Nachbarn, sie hatten dieses Blockhaus neben uns im Wald.«
»Ich erinnere mich. Eine fürchterliche Sache. Ich habe die Whites nicht kennengelernt, aber jeder hat damals darüber gesprochen. Ihr Haus ist, glaube ich, ein gutes Jahr bevor wir nebenan eingezogen sind, abgebrannt.« Mum nimmt einen Schluck aus der Flasche, dann lehnt sie sich schwer gegen die Scheibe und stiert auf das Meer. »Ich hatte immer Angst, dein Bruder würde aus den Bäumen fallen, aber nie hätte ich gedacht, dass es so enden würde. Vielleicht ist es besser, dass dein Vater in das Waldhaus zurückgekehrt ist. Er kann den Schmerz nicht ertragen und ich kann die Augen nicht von dem Meer lassen, das deinen Bruder verschlungen hat.« Sie schluckt hart. »Wie auch immer … Und du willst sicher nicht mit Dad zurückziehen, Alli?«, fragt Mum abrupt und dreht sich zu mir.
»Jeremy hat gelebt?«, stöhne ich auf. »Und er ist ertrunken, du bist eine Säuferin, Dad zieht aus, Carissa hatte nie eine Chance und ich selbst bin zu einer oberflächlichen Partytussi geworden!«
»Tja, so ist das, Alison.« Mums Stimme ist kalt, und als sie aus der Küche wankt, hält sie die Flasche immer noch in den Händen. »Man kann die Zeit nicht zurückdrehen und seine Entscheidungen korrigieren.«
Ich höre, wie sie die Treppe hinaufstolpert, eine Tür schlägt auf, ein Rumsen. Offensichtlich ist Mum irgendwo gelandet.
»Doch! Man kann die Zeit zurückdrehen. Die Gegenwart ist nicht in Stein gemeißelt«, flüstere ich.
Dann schließe ich die Augen, atme tief ein und schreie so laut es mir möglich ist: »Ich will das hier nicht!«
Sekunden lang geschieht nichts. Angespannt horche ich in mich hinein, aber weder Übelkeit noch Schwindel steigen in mir auf.
»Ich nehme diese Realität nicht an!«, kreische ich.
Meine Hand brennt als sofortige Folge dieser Worte. Ich öffne sie.
»Willkommen zu deiner zweiten Challenge, Alison Hill«, leuchtet es in grünen Lettern, dann wird mir wieder übel.
Ich erbreche mich auf den Küchenfußboden, würge, bis mir schwarz vor Augen wird, schließe sie und sacke zusammen, hinein in mein Erbrochenes.
4. KAPITEL
2417
Irgendwo im Show-Dome
Es riecht nach Lavendel, die Luft ist frisch und warm, Vögel zwitschern und nur wenige Schritte von mir entfernt reihen sich üppige Büsche in violetter Pracht aneinander, in der ein alter Mann mit Strohhut steht, um behutsam Zweig für Zweig in einen Weidenkorb zu legen. Als ein Zitronenfalter seinen Arm streift, blickt er ihm nach und lächelt. Der Schmetterling steigt in die rosafarbenen Wolken, die sich über dem Horizont aus dem Bild schieben, das eine Seite der vier Wände einnimmt, die mich umgeben.
Neugierig streife ich mit der Hand durch den Lavendel und ertaste wenige Zentimeter hinter dem Trugbild eine glatte Wand. Ich trete zurück und lasse meinen Blick durch den Raum schweifen, der offensichtlich als Konferenzraum genutzt wird. Denn auf einem sandfarbenen Boden, der sich unter meinen Füßen auf befremdliche Weise wie Moos anfühlt, liegt ein kreisrunder Teppich, auf ihm ein von innen beleuchteter, ovaler Tisch, um den sich im perfekt abgestimmten Violett fünf Stühle gruppieren. In der Ecke ein säulenförmiger Wasserspender, gefüllt mit grell türkisener Flüssigkeit. Mein Hals brennt durch die Magensäure, die das
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