Die Zeitrausch-Trilogie, Band 1: Spiel der Vergangenheit (German Edition)
uns in der verbleibenden Zeit, den Baum so weit zu verletzen, dass er den Sommer nicht übersteht.
Kay hockt auf der anderen Seite und führt den Flaschenhals in kräftigen und gleichmäßigen Zügen oberhalb der Wurzeln entlang. Er scheint mehr Erfolg zu haben als ich. Dann jedoch passieren zwei Dinge auf einmal: Mr White ist etwa hundert Meter hinter uns aufgetaucht und kommt auf uns zu und … der Marker beginnt zu piepen. Es kommt mir vor, als hätten sie uns weitere Zeit geraubt, denn der Countdown zeigt neunzig Sekunden an, blinkt kurz auf und zählt unbeeindruckt ob unserer Situation rückwärts.
»Hey, was macht ihr da? Ich rufe die Polizei!«, schreit Mr White immer näher kommend.
Es ist zwecklos. Wir werden diesen Baum nicht zu Fall bringen. Schweiß bricht aus meinen Poren und meine Hände sind auf einmal so glitschig, dass sie meinen Hieben kaum mehr Kraft verleihen können. Tante Rose darf nicht am … Fieberhaft rechne ich nach. Jeremy ist im Juni 2003 geboren, wird geboren werden. Egal. Neun Monate, meine Finger fliegen hoch. Neun Monate, neun Monate! September! September 2002. Genau! Es war der Hochzeitstag. Mum und Dad haben am 30. September Hochzeitstag. Ich bin mir nicht vollkommen sicher, aber es bleibt keine Zeit mehr. Mr White hat uns erreicht und packt Kay bei den Schultern. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie Kay blitzartig auf den Beinen ist, die Flasche fällt zu Boden, ich habe bereits »30. Sept« in den Baumstamm geritzt. Die Borke ist knorrig und macht es mir nicht leicht. Ich verzichte auf den Rest des Wortes. Noch vierzig Sekunden. Ein Aufschrei. Mr Grey liegt auf dem Boden. Kay fixiert ihn mit einer Hand.
»Ich werde Ihnen nicht wehtun«, sagt er ruhig. »Und Sie werden nicht schreien.«
Mr White nickt, schielt zu mir herüber.
Kay lässt ihn nicht aus den Augen. Fast in Keilschrift hämmere ich Buchstabe für Buchstabe in den Stamm. Die Zahlen 2002 stechen klar heraus, das Wort Rose hingegen ist schlecht zu lesen, es lässt sich nicht ändern. »Kauf Äpfel«, vollende ich die nächsten Worte. Der Platz reicht nicht. Verzweifelt ritze ich den letzten Teil meiner Botschaft in eine Wurzel, die aus dem Erdreich geplatzt ist. »Nicht pflücken!«
Das Piepen wird lauter. Fünfzehn Sekunden. Fünfzehn Sekunden, um Kay noch einmal in die Augen zu sehen. Seine Aufmerksamkeit gilt jedoch immer noch Mr White.
»In welcher Realität lebst du ?«, frage ich ihn.
Er sieht auf und in seinem Blick liegt so viel Wärme und Schmerz zugleich, dass mich das überwältigende Bedürfnis überkommt, ihn zu halten, zu küssen, ihm tröstende Worte zuzuflüstern.
»In einer Realität, in der ich nie mehr lieben werde«, antwortet Kay mit belegter Stimme. »Viel Glück, Alison.«
3. KAPITEL
31. AUGUST 2013
8.02 Uhr, irgendwo
Kays Blick eingebrannt in mein Gedächtnis, erwache ich. Diesmal ist mir nicht schwindelig, aber ich fühle mich benommen, ganz so, als hätte ich viel zu lange geschlafen, mich aber kein bisschen erholt. Dabei bin ich mir sicher, nur ein paar Minuten geruht zu haben. Meine Erinnerungen an die vergangenen Stunden sind viel zu real, als dass sie einem Traum entsprungen sein könnten, und natürlich gilt mein erster halbwegs klarer Gedanke Jeremy.
Angestrengt versuche ich, die Augen zu öffnen, um zu sehen, wo ich bin und vor allen Dingen wann. Ist mein Plan aufgegangen? Offensichtlich liege ich in einem Bett, eine leichte Daunendecke auf mir. Das Rauschen des Windes in den Baumwipfeln dringt durch ein geöffnetes Fenster. Aber es riecht salzig, keinesfalls erdig. Erst nachdem ich meine Augen wie ein Waschbär gerieben habe, löst sich der Wimpernkranz von der Haut und ich blicke verquollen in ein gleißendes Licht, das durch eine große Panoramascheibe das Zimmer flutet. Es kommt mir vertraut vor, aber zu Hause bin ich nicht.
Mit der Hand schütze ich meine Augen, kneife sie zusammen, um die glitzernde Oberfläche eines Meeres auszumachen, das in der Morgensonne von Millionen Lichtreflexen überzogen wird. Kleine Wellen spülen schaumige Flocken ans Ufer und jetzt bringe ich das Rauschen in Einklang mit dem, was es ist: Ich befinde mich in Carissas Zimmer, das Meer nur wenige Meter entfernt. Sie hat sich neu eingerichtet. Ihre kalten Designermöbel sind einem Flickenteppich gewichen, auf dem eine Holzkiste steht, in der Ecke lehnt ein ausgeblichener Stamm, an den sie Fotos gepinnt hat, und aus einer geöffneten Runddeckeltruhe quellen Kleidungsstücke. Bis auf einen
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