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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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an die Theke gehockt hatte.
    Dieser Mann – der McHenry-Doppelgänger – mußte mit dem Barkeeper gesprochen und ihm mitgeteilt haben, daß er noch in dieser Nacht nach Florida wolle. Die Geschichte war soweit ganz logisch. Es gab nur eine einzige Schwierigkeit: Was war aus dem Doppelgänger geworden, als der richtige Richard McHenry auftauchte?
    Vor der Bar befand sich ein Parkplatz. Richard kramte in der rechten Hosentasche und fand ein Paar Autoschlüssel, das er gewöhnlich dort zu tragen pflegte. Ford Motor Company, Lincoln. Er schritt weiter und sah schon von weitem seinen türkisblauen Mark 8, mit offenem Dach, dasselbe Fahrzeug, das er gefahren hatte, bis er zum Vortraining für den Testflug mit der Mondfähre zur Raumstation hinauf mußte. Sogar das Nummernschild war richtig – 19 WW–23146, Florida, Sunshine State, 1999 bis 2000.
    Richard stieg ein. Der Schlüssel paßte. Surrend sprang der Motor an. Er betätigte den Hebel, der das Dach über den Wagen fuhr. Vorsichtig lenkte er aus dem Parkplatz hinaus und kam auf die Landstraße. Minuten später fand er ein Hinweisschild: INTERSTATE 95, SOUTH. Er folgte dem Schild und gelangte auf die Autobahn. Er stellte die Cruisomatic auf 75 Meilen pro Stunde und hatte sich von da an nur mit dem Steuer zu beschäftigen. Er schaltete das Radio ein und ließ leichte Musik, unterbrochen von Reklamespots, über sich dahinplätschern. Es gab eine Menge nachzudenken.
     
    Die Gedanken, die er sich machte, kamen in vielen Punkten den Naturgesetzen, die Jahrhunderte später die Disziplin Chronosophie ermittelte und interpretierte, erstaunlich nahe. Ein Teil dieser Gedanken blieb in Form eines Briefwechsels, den Richard McHenry Monate später mit seinem engsten Freund führte, der Nachwelt erhalten und bildet heute eine Muß-Lektüre für jeden Studenten der Chronosophie.
    Er malte sich aus, daß es nicht nur eine, sondern mehrere Daseinsebenen gäbe. Diesen Ausdruck verwendete er in seinen Briefen. Die Chronosophie benutzt statt dessen den Begriff Universalzustände oder, einfach, Universen. Normalerweise, schloß McHenry, spielte sich das Leben eines Menschen auf einer und nur einer Daseinsebene ab. Anders in seinem Fall. Unter ungeheurem seelischem Druck war er kurz vor dem Aufprall der Mondfähre offenbar aus der ihm angestammten Ebene hinausgepreßt und auf eine andere versetzt worden – jene Ebene nämlich, in der Richard McHenry, anstatt an Bord der Raumstation sich auf seinen Testflug vorzubereiten, in einer Bar in Florence, South Carolina, saß und vorhatte, noch in dieser Nacht nach Florida weiterzureisen.
    Die Daseinsebenenhypothese erklärte nicht die Anwesenheit des anderen McHenry, des Doppelgängers, der vor dem richtigen McHenry in der Bar gewesen und mit dem Barkeeper ins Gespräch gekommen war. Sie schien eher zu fordern, daß der Doppelgänger in dem Augenblick, in dem der richtige McHenry auftauchte, ebenfalls auf eine andere Ebene verschlagen worden war. Somit gäbe es also eine Kettenreaktion, in der auf jeder Daseinsebene ein schon dagewesener McHenry von einem neuangekommenen verdrängt wurde. Und einer schließlich mußte derjenige sein, der schließlich in der Mondfähre landete und mit dem abstürzenden Fahrzeug auf der Oberfläche des Mondes zerschellte.
    Diese Vorstellung bereitete Richard McHenry Gewissensbisse. Wenn seine Theorie richtig war, dann war er, absichtlich oder nicht, dafür verantwortlich, daß an seiner Stelle ein anderer McHenry sein Leben verloren hatte. Diese Gewissensbisse hätte er sich natürlich nicht zu machen brauchen, wenn er die Gesetze der Chronosophie gekannt hätte. Denn in diesem Punkt war seine Hypothese falsch. Es gab keine Kettenreaktion, in deren Verlauf die McHenrys einander gegenseitig von Daseinsebenen verdrängten. Es gibt nur die Unzahl der möglichen Universalzustände, in deren Gesamtheit sämtliche denkbaren Ereignisse und Zustände verwirklicht sind. Es gibt also eine große Zahl von Universen, in denen ein McHenry mit der Fähre auf dem Mond abstürzt. Und es gibt eine annähernd ebenso große Zahl von Zuständen, in denen ein Richard McHenry plötzlich an der Theke einer ihm unbekannten Bar sitzt und sich daran erinnert, daß er noch vor Sekunden im Begriff war, auf der Mondoberfläche zu zerschellen. Die Frage nach dem Vorher darf gemäß den Gesetzen der Chronosophie nicht gestellt werden. Für den Menschen sind nur die Universalzustände wesentlich, die sein Bewußtsein ihm zugänglich macht.

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