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Die Zeitstraße

Die Zeitstraße

Titel: Die Zeitstraße Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kurt Mahr
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dem die Erde das Fahrzeug an sich zu binden versuchte. Die Beschleunigung, die Dick auf dem Meßinstrument sah, war ein manipulierter Wert: Beschleunigung nach Triebwerksleistung minus Erdbeschleunigung, also die wahre Zuwachsrate seiner Geschwindigkeit mit Bezug auf den Mond.
    »Plus dreißig Sekunden«, meldete sich Wetzstein von neuem. »R ist knapp zweiundvierzigtausend, R-punkt bei neun-zwo-acht-null. Wir liegen goldrichtig, mein Junge!«
    Der Knoten in Richard McHenrys Magen begann sich zu lösen. Alles ging wie am Schnürchen. Er brauchte sich keine Sorge mehr zu machen. Der Komputer steuerte sein kleines Raumschiff mit träumerischer Sicherheit. Er konnte sich entspannen. In wenig mehr als einer Stunde würde sich die Fähre sacht wie ein fallendes Blatt auf die Oberfläche des Mondes hinabsenken.
    Die Sekunden tickten dahin, reihten sich zu Minuten. Richard McHenry hatte sich an den Andruck längst gewöhnt und empfand ihn nicht als störend. In jeder Sekunde wuchs seine Geschwindigkeit um annähernd einhundert Meter pro Sekunde. Er war der schnellste Mensch, der je den Weltraum beflogen hatte. Er betrachtete den Bildschirm. Von rechts her begann die volle Scheibe des Mondes sich ins Blickfeld zu schieben. War auch Zeit! Sie mußte annähernd die Mitte des Bildschirms eingenommen haben und an den Rändern darüber hinauswachsen, wenn er zur Landung ansetzte.
    Richard McHenry beschäftigte sich mit Routinedingen. Sie waren unwichtig, das wußte er; denn wenn sich eine nennenswerte Abweichung von den Sollwerten ergeben hätte, wäre er von Wetzstein oder Phillips darauf aufmerksam gemacht worden. Die Leute dort hinten auf der Raumstation kümmerten sich um sein Wohlbefinden mit weitaus größerer Sorgfalt als er selbst. Anzug-Innentemperatur: 23 Grad. Anzug-Innendruck: 3,8 atü. Luftfeuchtigkeit, relativ: 57 Prozent. Alles in Ordnung. Der Schutzanzug funktionierte, wie er sollte. Eine Viertelstunde nach dem Start bewegte sich die Mondfähre mit einer Geschwindigkeit von annähernd neunzig Kilometern pro Sekunde. Nach Ablauf von dreißig Minuten hatte sie sich mehr als verdoppelt. Im Innern der Fähre war noch immer alles in Ordnung. Richard McHenry erwartete die Ankündigung des Flugleiters, daß der Schaltpunkt nur noch wenige Sekunden entfernt sei. Zwischen Beschleunigungs- und Bremsphase wurden einige Augenblicke antriebslosen Fluges eingeschaltet. Diese Zeitspanne war erforderlich, damit der Pilotensessel um 180 Grad gedreht werden konnte. Denn die Mondfähre besaß Triebwerksausstöße an beiden Rumpfenden. Das mühsame Drehen des Fahrzeugkörpers, eine Tradition der Raumfahrt von den ersten Tagen an, entfiel dadurch. Die antriebslose Phase hatte eine Dauer von genau 11,35 Sekunden. So genau war für den Flug der Mondfähre alles ausgerechnet. Denn bei der mörderischen Geschwindigkeit der Fähre kam es darauf an, jedes Manöver genau zum vorbestimmten Zeitpunkt, mit einer Toleranz von nicht mehr als einigen Hundertstelsekunden, auszuführen. Ein Verfehlen des richtigen Zeitpunkts konnte zur Katastrophe führen.
    »Umschaltpunkt minus dreißig Sekunden, Dick«, sagte Karl Wetzstein. »Wie fühlst du dich?«
    »Berauscht von der Geschwindigkeit«, versuchte McHenry zu spotten.
    »Das ist gut«, lachte der Flugleiter. »Schaltpunkt minus fünfzehn!«
    Fünfzehn Sekunden später setzte der Andruck plötzlich aus. Das Triebwerk schwieg. Der Sessel begann sich zu drehen. Innerhalb von neuneinhalb Sekunden beschrieb er eine Drehung von 180 Grad. Konsole und Schalttafel waren mit dem Sessel verbunden und drehten sich mit.
    »… drei … zwei … eins«, zählte Karl Wetzstein.
    Dann plötzlich ein halberstickter Laut, ein Schrei. Richard McHenry wußte sofort, was geschehen war: der Bremsandruck blieb aus. Die Mondfähre flog antriebslos weiter. Es knackste und rauschte im Empfänger. Dick konnte sich die Leute an Bord der Raumstation vorstellen: Wetzstein hatte das Mikrophon abgeschaltet, damit die Rufe des Entsetzens nicht übertragen wurden und ihn beunruhigten. Guter Karl! Er dachte immer an alles.
    Plötzlich, als sei ihm ein Schleier von den Augen gerissen worden, erkannte McHenry die Gefahr, in der er schwebte. Die Fähre schoß mit mehr als 190 Kilometern in der Sekunde auf den Mond zu. Die Rundung des Erdtrabanten auf dem Bildschirm schien sich aufzublähen, von Sekunde zu Sekunde zu wachsen, als stürze sie sich dem kleinen, hilflosen Fahrzeug entgegen. Wenn nicht bald etwas geschah, daß wußte

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