Die Zeitwanderer
Ihre Wirklichkeit - ihr Wachzustand - war das Hier und Jetzt; und Mina gefiel dieses Hier und Jetzt wirklich sehr. Wenn sie ganz ehrlich zu sich sein wollte, dann war sie zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass sie das London des einundzwanzigsten Jahrhunderts in keiner Weise vermisste: weder ihre Freunde noch ihre Wohnung, weder ihre Familie noch sonst irgendetwas. Nicht einmal Kit. Seit ihrer Ankunft in Prag hatte sie für ihren elenden Freund nicht mehr als einen flüchtigen Gedanken übrig gehabt. Ihr Herz hatte ihn - ebenso wie alles andere aus ihrer rasch dahinschwindenden Vergangenheit - einfach losgelassen. Eigentümlicherweise machte dieser Gedanke sie ein wenig traurig, allerdings konnte sie sich nicht erklären, warum.
Vielleicht enthüllte ja dieses Fehlen von Gefühlen die Armseligkeit ihrer früheren Existenz; und genau das war es, was sie in eine melancholische Stimmung versetzte. Allerdings dauerte diese Anwandlung, in das eigene Innere zu schauen, nicht lange. Mina, die stets eine praktische Person gewesen war, betrachtete solche Grübeleien als vollkommen unproduktiv; und wenn so etwas das eigene Vorankommen zu stören drohte, schob sie Gedanken dieser Art entschieden beiseite. Stattdessen widmete sie sich weiter ihrem Geschäft.
Und was für ein Geschäft das war! Sie, Etzel und ihre Bediensteten fanden sich im Zentrum eines Wirbelwindes aus Aufsehen und Beifall wieder. Die ehrenwerten Bürger von Prag konnten einfach nicht genug vom Kaffee bekommen. Jeden Tag war Engelbert gezwungen, die Fensterläden zu schließen, obwohl draußen immer noch Menschen standen, die hineinwollten. Ihre Kunden waren jedoch weit davon entfernt, sich durch diesen Ausschluss entmutigen zu lassen; vielmehr wurden sie dadurch nur noch entschlossener, das Kaffeehaus aufzusuchen.
Die erste Woche ging in die zweite über und so weiter, der erste Monat in den nächsten, und immer noch versiegte die Flut an Kundschaft nicht. Es ging jedoch ein wenig geordneter zu, als die Menschen herauszufinden begannen, wann die beste Zeit für eine der jeweiligen geselligen Zusammenkünfte war, für die sie sich interessierten. Wilhelmina sah Muster entstehen und war fasziniert von den sich abzeichnenden Gesetzmäßigkeiten. Die Geschäftsleute zum Beispiel, von denen viele als Händler auf dem großen Platz tätig waren, trafen ein, sobald sich die Türen öffneten. Allerdings blieben sie nicht lange da - sie aßen und tranken, unterhielten sich rasch und eilten dann fort, um ihren Geschäften nachzugehen. Im Verlauf des Vormittags setzten sich die Adligen, Möchtegern-Adligen und sozialen Aufsteiger im Kaffeehaus fest; sie verweilten lange über ihren dampfenden Tassen, sodass alle die Kleider, die Begleitung, den Rang und die Manieren eines jeden bewundern konnten. Als Nächstes kamen die gewöhnlichen ehrenwerten und neugierigen Bürger; sie wollten zumeist nur tratschen und an der jüngsten Sensation der Stadt teilhaben. Die Angehörigen der nächsten Gruppe, die das Kaffeehaus kolonisierte, konnte Mina nur als Intellektuelle und Gebildete beschreiben: Es handelte sich um Professoren und Dozenten der Prager Karls-Universität, die zusammen mit einigen der Doktoranden und Studenten aus den höheren Semestern kamen. Mit Einbruch der Dämmerung mischten sie sich unter die Künstler - die Dichter, Maler und Musiker - sowie andere intelligente Zeitgenossen, die noch jung waren und deren Tag gerade erst begann. Als Letzte tauchten diejenigen auf, die Mina als Radikale einstufte: düstere und verstohlen blickende Männer, die sich versammelten, um ihrem Herzen Luft zu machen und sich über gefährliche Ideen auszulassen, welche sich in ihren fanatischen, streitbaren Seelen ausbreiteten.
An den Rändern dieser recht gut voneinander unterscheidbaren Gruppierungen gab es noch weitere Besucher, die kamen und gingen. Sie trieben quasi zwischen den verschiedenen Lagern und Schichten, gehörten jedoch nie voll und ganz einer dieser Gruppen an. Dazu zählten Angehörige bestimmter Berufe, beispielsweise Mediziner und Juristen, die mit jeder dieser unterschiedlichen Gruppierungen verkehren konnten. Es gab auch eine Vielzahl von unteren Hofbeamten, unter denen Wilhelmina einen seltsamen Zirkel ausmachte, den sie nicht so einfach einordnen konnte. Die Kleidung dieser Leute erinnerte vage an akademische Gewänder; alle trugen merkwürdige Hüte mit bizarren Formen und ungewöhnlichen Stoffen, lange Stolen sowie Roben, die mit Pelz verbrämt und mit
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