Die Zeitwanderer
Eingebettet zwischen den ausgedörrten Hügeln der Wüste und den frischen grünen Feldern des Niltals, leuchtete diese Stadt wie ein schimmernder Mondstein.
Xian-Li und Arthur starrten hinab auf die Ansammlungen weiß getünchter Häuser, die willkürlich verstreut im Tiefland errichtet worden waren, welches sich entlang des majestätischen Flusses erstreckte. Der Nil selbst war nur als eine blaue Linie zu sehen, die am fernen Horizont tanzte. Die Luft war rein und klar, und es wehte ein sanfter Wind. Von den Häusern unten drifteten die Geräusche bellender Hunde hinauf.
»Es scheint, dass unsere Ankunft bemerkt worden ist«, meinte Arthur. »Hunde sind immer die Ersten, die so etwas wissen.«
»Sie sind wachsam gegenüber jeder Veränderung in ihrer Welt«, merkte Xian-Li an. »In China sagen die Alten, dass ein Hund eine Veränderung hören und riechen kann, bevor sie überhaupt geschieht.«
Sie stiegen ins Tal hinab, wobei sie mit einem Auge die Häuser unten im Blick behielten. Obwohl die Hunde weiterhin kläfften, sah man keine Menschen, bis die beiden die Straße erreichten, die in die festgedrückte Erde eingekratzt war. Sobald sie auf dem Pfad waren, der in die Stadt führte, erspähten sie Gesichter, die flüchtig an den kleinen dunklen Fenstern und Eingängen der weiß getünchten Lehmhäuser auftauchten, während sie vorbeigingen.
»Jetzt werden wir beobachtet«, murmelte Arthur. »Hab keine Angst - nur lächeln und einfach weitergehen.«
Seine Frau blickte kurz nach hinten und sah zwei braune Männer, die mit verschränkten Armen vor ihren Häusern standen; Hunde schwänzelten um sie her, und hinter ihren nackten Beinen versteckten sich Kinder. Xian-Li war froh über ihr Leinengewand. Es war gar nicht einmal so verschieden von dem, was sie in China getragen hatte, doch mehr in Übereinstimmung mit der hiesigen Bekleidung. Arthur hatte es da schon schwerer. Selbst in seinem lose herabhängenden, bodenlangen Hemd würde er sich niemals äußerlich den Einheimischen angleichen: Er war zu groß und, auch das war nicht zu verkennen, zu weiß.
Je weiter sie in die Stadt vorstießen, desto gedrängter standen die Häuser beieinander; die Straßen und Pfade zwischen ihnen hatten immer verworrenere und kurvenreichere Verläufe. Sie kamen durch Bezirke voller Wohlstand und Annehmlichkeit, in deren unmittelbaren Nähe sich jedoch auch ärmliche Gebiete befanden. In den reicheren Vierteln waren die Wohnstätten aus behauenen Steinen errichtet, von Feigenbäumen und Dattelpalmen beschattet und von gepflegten Gärten umgeben. In den ärmlicheren Stadtteilen bestanden die Häuser aus Lehmziegeln und Verputz; Hühner und Schweine streiften zwischen Kohl- und Bohnenreihen umher, und die Höfe vor den Häusern wurden für handwerkliche Tätigkeiten genutzt: für Töpfer-, Schreiner- und Webarbeiten oder Ähnliches.
Xian-Li fand in allem, was sie sah, etwas Faszinierendes. Selbst der flüchtigste Blick brachte einen Schauer der Erregung, wenn sich etwas Neues und Überraschendes offenbarte: Junge Mädchen, die in himmelblaue Hemden gekleidet waren, trugen in Körben aus Schilfrohr nasse Wäsche vom Fluss; kleine Jungen trieben Schare von Gänsen mit Weidengerten und erzeugten dabei mehr Chaos als Ordnung; Frauen saßen an Webstühlen im Freien und spannen unbearbeiteten Flachs zu Fäden; in Gruben mit Farbbädern arbeiteten Jugendliche, die fast ganz nackt und deren Arme und Beine voller leuchtend blauer, grüner oder gelber Flecken waren; Steinmetze erstellten Schleifsteine für Handmühlen; ein Fleischer zerhackte mit einem Beil eine geschlachtete Kuh und hängte die blutigen Teile an der gesamten Front seines Hauses an Haken auf; ein Töpfer und seine Frau schleppten ihre Waren zum Ofen - auf Brettern, die sie auf ihren Köpfen balancierten. Das gesamte Leben einer geschäftigen Stadt wurde in der Öffentlichkeit ausgetragen.
»Es ist wundervoll«, flüsterte Xian-Li. »Die Menschen sind so ... so schön.«
Sie waren schlank und geschmeidig, hatten schwarze Augen und Haare. Die Haut dieser Menschen war dunkler als ihre eigene, bemerkte Xian-Li - so dunkel wie bei einigen Leuten auf den Inseln im Südchinesischen Meer. Sie gelangte rasch zu der Ansicht, dass sie hier die am besten aussehenden Menschen erblickte, denen sie jemals begegnet war.
»Es ist ein hübsches Volk«, stimmte Arthur ihr zu. »Und größtenteils sehr friedfertig. Zudem sind die Leute neugierig, wie der Tag lang ist. Nur wenig entgeht
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