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Die Zeitwanderer

Die Zeitwanderer

Titel: Die Zeitwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
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dass es Kilometer waren.
    Dessen ungeachtet war sie entschlossen, ihre verstörende Zwangslage zu beenden und die nächste menschliche Wohnstätte zu finden. Sie betrat die Landstraße und marschierte in die Richtung, die der Wegweiser anzeigte. Nach vielleicht zwei oder drei Meilen vernahm sie ein Geräusch hinter sich: ein langsames, beständiges Knarren und Klappern. Sie drehte sich um und sah einen Pferdewagen, der über die Straße auf sie zugerollt kam. Offensichtlich ein Bauer, fuhr es Mina durch den Kopf. Sie blieb stehen mit der Absicht, den Wagen anzuhalten und eine Mitfahrgelegenheit zu erbitten - ganz gleich, wohin es ging.
    Als das Gefährt näherkam, sah sie, dass es sich nicht, wie sie zuerst geglaubt hatte, um ein einfaches Fuhrwerk für die Feldarbeit handelte: Es war vielmehr ein größeres, hochbordiges Fahrzeug mit einem Leinenverdeck, das über gebogene Reifen gezogen worden war, sodass es eine runde, zeltähnliche Bespannung bildete. Eine Art Planwagen, wie aus dem Wilden Westen. Der Wagen wurde zudem nicht nur von einem Tier gezogen, sondern von zwei Mauleseln, die lange Beine und Ohren hatten. Auf der Fahrerbank saß ein beleibter Mann mit einem ausgebeulten Hut aus Leinen. Sie winkte, woraufhin das Gefährt langsamer wurde und schließlich neben ihr stehen blieb.
    »Hallo!«, rief sie und bemühte sich, recht munter dabei zu klingen. Sie hoffte, dass so ihr nasses, schmutziges Äußeres vielleicht übersehen würde.
    »Guten Tag«, antwortete der Mann auf Deutsch, sodass sich Wilhelmina augenblicklich in ihre Kindheit und in die Küche ihrer deutschen Großmutter zurückversetzt fühlte.
    Die unerwartete, kuriose Begegnung mit einem Deutschsprachigen auf der Landstraße führte dazu, dass sich ihre ohnehin schon abgrundtiefe Verwirrung noch mehr verstärkte. Sie war zunächst völlig sprachlos und starrte den Mann nur an.
    Der Fremde schien zu glauben, dass sie ihn nicht verstanden hatte, denn er wiederholte lächelnd seinen Gruß.
    »Guten Tag«, erwiderte Mina in derselben Sprache und dachte angestrengt nach, um sich an ihre lange nicht mehr benutzten Deutschkenntnisse zu erinnern. »Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Die deutschen Wörter fühlten sich irgendwie klumpig und hölzern in ihrem Mund an, und ihrer Zunge widerstrebte es, solche Laute zu bilden. »Sprechen Sie Englisch?«
    »Es tut mir leid - nein«, antwortete der Mann weiterhin auf Deutsch. Er beäugte sie neugierig, vor allem ihre seltsame Kleidung und ihr kurzes Haar. Dann drehte er sich auf seinem Sitz herum und suchte mit den Augen die Straße nach beiden Richtungen ab. »Seid Ihr alleine hier?«
    Sie brauchte einen Moment, um den Sinn der Frage zu verstehen; doch dann kamen die Wörter wie aus sehr großer Entfernung zu ihr zurückgeflogen. »Ja«, antwortete sie auf Deutsch. »Alleine.«
    Der dicke Mann nickte. Anschließend sprudelte aus seinem Mund ein ziemlich langer Satz hervor, der Wilhelmina erneut in ihre Kindheit entrückte und zu dem Deutsch, das sie damals gelernt hatte: der altmodischen, seit Langem überholten Sprache ihrer Großmutter, der wiederum dieses Deutsch von ihrer nach England eingewanderten Großmutter beigebracht worden war. Es war eine Sprache, die sich sehr von dem Hochdeutsch unterschied, das Mina in der Schule gelernt hatte. Nichtsdestotrotz gelang es ihr, herauszubekommen, dass der Mann ihr mit seinen Worten eine Mitfahrgelegenheit zur nächsten Stadt angeboten hatte. Auf der Stelle nahm sie das Angebot an.
    Der Wagenfahrer legte die Zügel nieder und stand auf. Dann beugte er sich vor, um auf die kreisförmige Eisenstufe hinzuweisen, die unten aus dem Wagenkasten herausragte, und streckte seine Hand nach unten. Mina setzte einen ihrer verdreckten Stiefel auf die Stufe und ergriff die dargebotene Hand. Mühelos zog der Mann sie nach oben auf den hölzernen Sitz. Sobald sie sich auf die Bank gesetzt hatte, nahm der Fahrer wieder die Zügel auf und ließ sie schnalzen. »Hü!«, rief er. Der Wagen machte einen Ruck, die Räder knarrten, und die Mulis bewegten sich wieder mit müden, trappelnden Schritten voran.
    Schweigend rumpelten sie über die holprige Landstraße. Während der Wagen hin und her schaukelte, warf Mina ab und an einen verstohlenen Blick zum Fahrer. Er war ein sehr korpulenter Mann unbestimmten Alters mit einem sanften, freundlichen Gebaren. Seine Kleidungsstücke waren sauber und ordentlich, doch von einfachster Art. Er trug eine schlichte dunkelgrüne Wolljacke über einem

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