Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Zeitwanderer

Die Zeitwanderer

Titel: Die Zeitwanderer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen R. Lawhead
Vom Netzwerk:
groben, doch reinen Leinenhemd und eine weite Kniehose aus schwerem dunklem Sackleinen. Seine Füße steckten in handgemachten, derben, knöchelhohen Stiefeln, die allerdings schon ziemlich verschrammt und abgenutzt waren und dringend ausgebessert werden mussten. Minas feister Reisegefährte stellte insgesamt eine unauffällige Erscheinung dar - mit Ausnahme seines Gesichts. Es war rund, weich und rosafarben wie das eines Babys. Die Augen unter seinen blassen Brauen waren hellblau; und die dicken Backen, die von dem dünnen blonden Stoppelbart nur unzureichend bedeckt wurden, leuchteten rötlich im frischen Herbstwind.
    Es war dieses gutmütige Gesicht, das ihn auszeichnete, befand Mina; denn die Miene, mit der er auf die Welt blickte, zeichnete sich durch einen Ausdruck von gutartiger Freundlichkeit aus: als ob alles, auf das sein Blick fiel, ihn amüsierte und erfreute - als ob die Welt und alles, was in ihr existierte, nur zu seinem Vergnügen da war. Er schien ein permanentes Wohlwollen auszustrahlen.
    Wilhelmina räusperte sich schließlich und sagte in der für sie ungewohnten Sprache: »Ich spreche ein bisschen Deutsch, ja?«
    Der Mann schaute sie an und lächelte. »Sehr gut.«
    »Danke schön, dass Sie für mich angehalten haben«, sagte sie. »Ich bin Wilhelmina.«
    »Ein schöner Name«, erklärte der Mann, der in einem breiten Dialekt sprach, wenn auch nur geringfügig. »Auch ich habe einen Namen«, verkündete er stolz. »Ich heiße Engelbert Stiglmaier.« Mit seiner feisten Hand hob er den unförmigen Hut hoch und vollführte im Sitzen eine kleine, komisch wirkende Verbeugung.
    Mina fühlte sich durch die altmodische Geste seltsam berührt und musste unwillkürlich schmunzeln. »Ich bin glücklich, Sie kennenzulernen, Herr Stiglmaier.«
    »Bitte! Bitte, mein Vater ist der Herr Stiglmaier. Mich nennt man einfach nur Etzel.«
    »In Ordnung. Also Etzel.«
    »Ihr müsst wissen, dass ich beinahe nicht für Euch angehalten hätte«, vertraute er ihr gutgelaunt an. »Oh?«
    »Ich glaubte, Ihr wäret ein Mann.« Er zeigte auf ihre seltsame Kleidung und ihr kurzes Haar. Dann lächelte er und zuckte mit den Schultern. »Aber dann habe ich zu mir gesagt: Denk nach, Etzel; vielleicht kleiden sich die Menschen in Böhmen so. Du bist bis jetzt niemals außerhalb von Bayern gewesen. Wie also kannst du wissen, was man in Böhmen anzieht.«
    Mina war ziemlich verblüfft, als sie das Wort »Böhmen« hörte. Sie benötigte einen Augenblick, um zunächst in Gedanken ihre nächste Frage ins Deutsche zu übersetzen; dann sagte sie: »Wie sind Sie nach Cornwall gekommen - falls es Ihnen nichts ausmacht, dass ich mich danach erkundige?«
    Er blickte sie verwundert an. »Du lieber Himmel! Ich bin niemals in England gewesen. Und dieses Cornwall liegt doch in England, oder?«
    »Aber wir sind doch hier in Cornwall«, entgegnete sie. »Dies ist Cornwall.«
    Er legte den Kopf zurück und lachte; es klang volltönend und fröhlich. »Ich nehme an, junge Leute müssen einfach ihre Späße machen. Wir sind in Böhmen, wie Ihr sicherlich selber wisst.« Dann fügte er erklärend hinzu: »Wir sind auf einer Straße, die nach Prag führt.«
    »Prag?«
    Engelbert betrachtete sie mit einem mitleidigen Blick, der Besorgnis verriet. »Ja, ich glaube schon.« Er nickte langsam. »Zumindest ist es das, was auf den Wegweisern steht.« Einen Augenblick lang musterte er sie erneut, dann fragte er: »Könnte es sein, dass Ihr Euch verlaufen habt?«
    »Jawohl«, antwortete sie seufzend und sank in ihrem Sitz zurück. »Das kann man wohl so sagen.« Mit voller Wucht kam erneut die extreme Fremdartigkeit ihrer Misere über sie. Zuerst war London verschwunden und jetzt auch noch Cornwall. Was würde wohl als Nächstes geschehen? Tränen der Angst und Frustration stiegen in ihren großen dunklen Augen auf. Was, in Gottes Namen, passiert mit mir?, dachte sie.
    »Na na, Herzerl, keine Sorge«, tröstete sie ihr rundlicher Reisegefährte, als ob er ihre Gedanken lesen könnte. »Ich werd' schon gut auf dich aufpassen. Es gibt nichts, wovor du Angst haben musst.« Er griff hinter die Rückenlehne und holte eine schwere Wolldecke hervor, die er Mina anbot. »Hier! Deine Kleidung ist nass, und es wird kalt. Wickel dich darin ein. Du wirst dich dann bestimmt besser fühlen.«
    Sie nahm die Decke und wischte sich mit den Handballen die Tränen ab. »Herzerl« - so hatte ihre Großmutter sie stets genannt. Dieselbe Großmutter, deren Deutsch sie sprach und

Weitere Kostenlose Bücher