Die zerborstene Klinge: Roman (German Edition)
lange es bis zum Schichtwechsel noch dauern würde. Ich stemmte mich in die Hocke und lugte durch die Gitterstäbe des Balkongeländers in die Tiefe, wartete darauf, dass Großalarm ausgelöst wurde, zählte im Kopf die Sekunden. Dem Ruf würde Chaosfolgen, kurz, aber nutzbar, und darauf wollte ich warten, wenn mir so viel Zeit blieb, darum die Sekundenzählerei.
Eins. Zwei . Bei drei musste der Elitesoldat, der meinen Bann ausgelöst hatte, den Raum durchquert haben und versuchen, die Tür des Königs zu öffnen. Er würde nicht erst klopfen, nachdem mein Alarm losgeheult hatte. Vier . Bei fünf würde er die Tür aufbrechen. Acht. Neun. Bei zehn hatte er die Leiche untersucht und festgestellt, dass sie noch warm war, aber nicht warm genug. Was danach geschehen würde, war nicht mehr so einfach vorhersagbar. Elf.
Wenn ich Glück hatte, würde der Elitesoldat eine schnelle Suche durchführen und die Falltür entdecken, die ich in den Boden des Aborts gesägt hatte, ehe er Alarm schlug. Siebzehn. Öffnete er sie, so würde er den Feuerbann auslösen und die Räucherkerze entzünden, die ich im Abwasserschacht zurückgelassen hatte. Neunzehn. Die logische Folge wäre ... Bei zwanzig wurde mein Gedankengang durch das Geräusch einer kraftvoll aufgestoßenen Tür ein Stockwerk über mir und einmal halb um den Turm herum unterbrochen.
Eine magisch verstärkte Stimme brüllte: »Assassinen in den Abzugskanälen!«
Eine halbe Sekunde später plärrten überall im Palast Alarmtrompeten los – noch mehr Magie. Die Krongardisten unter mir hatten bereits in den ersten Sekunden nach dem Heulen meines Bannes angefangen, sich aufgeschreckt umzuschauen, aber ihr Elitekommandant, ein junger Leutnant, behauptete standhaft seine Position und behielt sein Gebiet sicher im Auge. Und nun fing er an, Befehle zu brüllen, rührte sich darüber hinaus aber nicht.
Er konnte mich unmöglich übersehen, wenn ich über ihm im Segelflug über den Schlosshof die Sterne ausblendete, und blickte er nach oben, konnte er mich auch nicht übersehen. Aber mir blieb keine Chance, auf eine bessere Gelegenheit zu warten,also stand ich auf, tat zwei schnelle Schritte, sprang und stürzte mich vom Balkongeländer, die Arme weit ausgebreitet, während Triss uns auf mein Kommando Schattenflügel spann.
Ich wandelte den zwei Stockwerke in die Tiefe führenden Sturz in einen etwa siebzig Fuß überspannenden horizontalen Gleitflug um, nach dem ich auf der Ringmauer landete, die den Großen Turm vom Hauptgebäude trennte. Zu diesem Zeitpunkt war ich gezwungen, meine Pläne zu ändern, als etwas, das aussah wie die halbe Zhani-Streitmacht, aus den Barracken und mitten in meine Fluchtstrategie hineinrannte. Ursprünglich hatte ich einen zweiten Segelsprung zum Boden machen wollen, um dort die Beine in die Hand zu nehmen und zur Außenmauer zu hasten, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass eine Landung inmitten einer brodelnden Masse bewaffneter Soldaten meinen langfristigen Überlebensaussichten allzu zuträglich wäre.
Stattdessen wandte ich mich ab und rannte auf der Mauerkrone zu dem ferneren der beiden Türme, zwischen denen sie verlief, dem, der die königliche Küche beherbergte. Von dort bahnte ich mir einen Weg in Richtung Ballsaal. Dort lief ich einem Eliteleutnant namens Deem und seinem Steinhund – Name unbekannt – in die Arme. Ich gewann die Konfrontation, hätte dabei aber beinahe ein Bein verloren.
Der Rest meines Weges aus dem Palast hinaus liegt unter einer Art alptraumhaftem Nebel begraben. Auf Triss’ Beharren hin nahm ich ein paar zusätzliche Efikbohnen, um gegen den Schock anzukämpfen, während er einen Schattenverband über die tiefen Wunden an meiner Wade und meinem Fuß legte. Natürlich musste er an allen übrigen Stellen Substanz abbauen, um das zu tun, und so verlor ich einiges an Unsichtbarkeit. Kombiniert das mit dem wilden, knirschenden Geheul des Steinhundes des überwältigten Leutnants und dem tiefen, reißenden Schmerz, den ich bei jedem Schritt im Bein verspürte, und ich kann Euch ehrlich nicht sagen, wie ich es geschafft habe, am anderen Ende in einem Stück herauszukommen.
Ich erinnere mich nicht einmal, wie ich von dort zu der Molle gelangte, die ich als Reserve eingerichtet hatte für den Fall, dass ich nach der Exekution nicht gleich aus Tien verschwinden konnte. Gern würde ich sagen, dass Namara mich geführt und geschützt hat, und ich weiß, dass ich seinerzeit genau das gedacht hatte. Aber dieser
Weitere Kostenlose Bücher