Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
als würde sie in die Zauberkugel einer Wahrsagerin schauen. Sie sieht zu ihm hoch, ihr immer noch hübsches Gesicht ein hoffnungsvolles Fragezeichen.
Früher war er diesem Gesicht sklavisch verfallen gewesen.
Er nickt zur Bestätigung.
Lizzie lächelt ihn an. Sie ist ihm dankbar. Das ist ihrem Lächeln deutlich anzumerken. Sie ist eine Mutter, die sich schreckliche Sorgen um ihren Sohn macht. Sie will, dass Richard seinen Einfluss ausspielt.
Er tätschelt ihre Schulter.
Dann lockert er seine Krawatte und geht ins Schlafzimmer, allein. Er hängt sein Sakko in den Schrank und setzt sich ans Fußende des Betts. Bald wird er seine Schuhe aufbinden, die hölzernen Schuhspanner einsetzen und sie in seinen Schrank stellen. Bald wird er seine Socken ausziehen.
Kapitel 5
Z u Hause bleiben war langweilig. Quälend, ätzend langweilig. Wie wenn man Schorf von einer Wunde abkratzt. Schmerzhaft und dabei doch merkwürdig fesselnd. Jake suhlte sich geradezu in seinem Frust, betrachtete sämtliche Facetten seiner Langeweile wie durch einen Kristall. Und als er damit fertig war, sog er den Geruch ein. Dieses spezielle Gefühl will ich nie vergessen, dachte er und fragte sich dann, wieso eigentlich, wo er doch so unglücklich war. Ich bin ein Freak!, sagte er sich. Ein Geisteskranker! Und dann, nach ewigem Hin- und Herüberlegen, dachte er: Ich will mir all das Scheußliche gut merken, damit ich nie, nie wieder zulasse, dass ich mich so fühle.
Ständig war er angespannt, angespannt und nervös. Voller Angst und Scham. Wütend und gelangweilt. Tausenderlei verschiedene Gefühle – und, und, und! Egal … und diese Langeweile! Diese elende, sterbenslangweilige Langeweile. Auf nichts konnte er sich konzentrieren, konnte sich nicht von seiner Langeweile ablenken – nicht mit Musik, nicht mit Büchern, nicht mit Zeitschriften. Seine Mutter meinte, er solle »vorauslernen, dranbleiben«, aber wem machte sie hier eigentlich was vor? Jake konnte nicht denken, sich nicht konzentrieren. Und schon gar nicht konnte er an etwas dranbleiben, von dem er nicht wusste, was es überhaupt war. Es war ja nicht etwa so, dass seine Lehrer ihm die Probeaufgaben geschickt hätten. Oder dass ihm jemand geholfen hätte. Er dürfe nicht an den Computer, hatte sein Vater gesagt, hatte es sogar mehr oder weniger angeordnet – was schon okay war, was Jake total okay fand, obwohl es den Anschein hatte, als ob seine Mom von ihrem regelrecht zehrte, während sein Dad, der ihm bisher nie wie ein Heuchler vorgekommen war, an seinem CrackBerry quasi festklebte. Mittlerweile hatte Jake sogar Angst davor, das Ding überhaupt anzurühren. Schon allein die E-Mails. Die Hass-Mails und das »Voll geil, Alter« – was bloß eine andere Form von Hass-Mail war, dachte Jake; es war gehässig und ging so weit, dass er sich selbst hasste – das alles reichte schon, um einen totalen Zusammenbruch auszulösen.
Beim Gedanken an den Computer kam Jake ins Schwitzen. Unterarme, Hals und sogar seine Arschritze fühlten sich unangenehm feucht an. Die ganze Wohnung kam ihm irgendwie ranzig und verschwitzt vor – zu dritt waren sie dort drinnen zusammengesperrt, eingekerkert, gefangen, eingeschlossen. Coco fragte ihn immer wieder, wieso er denn nicht zur Schule müsse – »Das ist nicht fair«, sagte sie. Nichts ist fair, hätte Jake ihr am liebsten entgegengeschrien. Stattdessen guckte er bloß wütend, als seine Mutter sagte: »Schulen finden es manchmal besser, wenn ein Schüler ein Weilchen zu Hause arbeitet.« Ich zeig dir, was nicht fair ist, wollte Jake schreien.
Er kam sich vor wie in so einer kleinen Schneekugel, wie seine Oma sie ihm immer zu Weihnachten geschickt hatte, als er noch klein war, mit einer Schneelandschaft drin oder Frosty dem Schneemann oder sonst was, und wenn man schüttelte, wirbelten glitzernde Flöckchen herum, aber ohne dass was herauskonnte.
Zu Hause war es ein bisschen wie in einer Schneekugel, allerdings war es darin so heiß und feucht wie in einem Bikram- Yogastudio. Als sie noch in Ithaca wohnten, hatten sein Vater und er seine Mutter ein paarmal im Bikram-Yogastudio abgeholt (sein Dad schickte Jake hinein, um sie zu holen, und blieb selber im Auto sitzen, »weil ich der Vater bin«, hatte er gesagt, halb ironisch, halb nicht, eben typisch Dad). Die Haut an Moms Nacken und Schultern hatte eklig geglänzt, und das Yogastudio selbst hatte so gerochen und sich angefühlt wie das Innere von einem Turnschuh, und genauso fühlte sich jetzt
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