Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
dass sie gar nichts mehr essen mochte. Schon an der Wohnungstür fing sie an, sich die Strümpfe herunterzurollen, und zog sich aus, während sie noch die Tür zumachte. Dann legte sich Mom in BH und Slip auf die Couch und rauchte die Zigaretten, die sie am Ende auch umbrachten, eine nach der anderen, und der Achat-Aschenbecher lag wie ein Anker auf ihrem Brustkorb. Nie vergaß Liz die mahnende Litanei ihrer Mutter: »Ihr Mädchen müsst euch in der Schule anstrengen. Ihr müsst später unbedingt auf eigenen Beinen stehen, dürft nie auf das Geld eines Mannes angewiesen sein.« Und heute, mit all ihren tollen akademischen Abschlüssen in der Tasche – B.A., M.A., Doktortitel, noch dazu auf dem lukrativen Gebiet der Kunstgeschichte –, wäre die Formulierung »auf das Geld eines Mannes angewiesen« das, was Liz auszeichnete. Unnütz und gefangen in ihrer Situation hatten Sherrie Cavanaugh und Liz Bergamot vielleicht mehr gemeinsam als die gegenseitig versicherte Zerstörung ihrer Kinder.
Auf der Bühne wurde es hell. Jane Persky, adrett im hellblauen Hosenanzug, trat von der Seite herauf ans Mikrofon. Aus dem Zuhörerraum ertönte höflicher Beifall.
»Willkommen beim Abschlusskonzert der Wildwood-Vorschulkinder«, sagte sie. »Sie freuen sich bestimmt schon auf das, was Sie heute Nachmittag nun gleich hören und sehen werden. Doch bevor wir anfangen, möchte ich Sie noch kurz bitten, Ihre Mobiltelefone und anderen elektronischen Geräte auszuschalten. Auch sollten Sie wissen, dass einige unserer Zuhörer unter epileptischen Anfällen leiden. Wir bemühen uns, die Blitzlichtfotografie zu reduzieren, und werden die Aufführung daher auf Video aufzeichnen. Im Lauf des Sommers geht Ihnen allen je ein Exemplar davon zu, als Erinnerung an unser fantastisches Schuljahr, zusammen mit dem Kassenbericht 2003 bis 2004.«
Jane blinzelte lächelnd.
Diffuses Gelächter. Es klang wie das Rascheln von Laubhaufen im Wind.
»Wir haben mit Ihren wunderbaren Kindern ein ganz wunderbares Jahr verbracht. Allerherzlichsten Dank Ihnen allen, dass Sie sie uns ausgeliehen haben.«
Alle klatschten, auch Liz. Von der Seitenbühne ertönte Bob Marley mit One Love . Eines nach dem anderen marschierten die Vorschulkinder, angeführt von Mrs Livingston, auf die Bühne und sangen dabei: One love, one heart, let’s get together and feel alright. Coco, die Elfte in der Reihe, marschierte mit einem rotzfrechen Grinsen im Gesicht. Als sie Liz im Publikum erspähte, fing sie an zu winken und ihr Kusshändchen zuzuwerfen. »Momma«, rief sie. »Ich bin’s, Coco B.! Ich bin’s!« Liz ging das Herz über.
»Einfach hinreißend«, sagte Casey.
»Danke«, sagte Liz.
Mrs Livingston brachte Coco sanft wieder in Linie und half den Kindern, sich nebeneinander in einer Reihe aufzustellen. Dann folgte Mrs Aguados Vorschulklasse und die von Ms Evans. Bald war die ganze Bühne in drei Reihen rappelvoll, ein bunter Multikulti-Reigen.
»Sieht aus wie auf einer Werbung für Gap«, sagte Casey anerkennend.
Es stimmte, bis auf die Tatsache, dass sie alle in grauen Hosen und Röcken und weißen Polohemden auftraten.
Ms Walton, die Musiklehrerin, trat von links auf die Bühne, verbeugte sich und hob ihren Taktstock, und die Kinder holten alle tief Luft. Als sie ihn senkte, erhoben sie ihre süßen jungen Stimmen zum Gesang, die Hälse gereckt, die Gesichter nach oben gerichtet, die Münder aufgesperrt wie Vogelbabys. Wie kleine graue Spatzen.
A cappella begannen sie zu singen:
Ich bin auf dem Weg und schau nicht zurück.
Ich bin auf dem Weg und schau nicht zurück.
Ich bin auf dem Weg, oh ja, ich bin auf dem Weg.
Ich sag meiner Mutter: Bitte, bring mich hin.
Ich sag meinem Vater: Bitte, bring mich hin.
Ich sag meinen Lehrern: Bitte, bringt mich hin.
Ich bin auf dem Weg, oh ja, ich bin auf dem Weg.
Tränen kullerten Liz ungehindert die Wangen hinunter. Fürsorglich reichte Casey ihr ein Taschentuch.
»Deine Wimperntusche verläuft«, sagte sie zuvorkommend.
Stolzgeschwellt wartete Liz nach der Aufführung draußen mit den anderen Eltern, die inzwischen alle leicht zerknittert aussahen, als wären sie soeben vom kollektiven Nachmittagsschläfchen aufgewacht. Und schon strömten die eifrigen jungen Künstler auf die Straße hinaus. Die meisten Mütter hatten Blumen dabei, und Liz hätte sich in den Hintern beißen können, dass sie nicht daran gedacht hatte. Sie würde mit Coco zum nächstbesten Laden gehen, und dann durfte sich Coco selbst einen
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