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Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Die Zerbrechlichkeit des Gluecks

Titel: Die Zerbrechlichkeit des Gluecks Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Schulman
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geht’s euch denn allen? Heute früh bin ich Richard beim Laufen begegnet.«
    »Uns geht’s allen gut«, sagte Liz. »Danke, dass du fragst.«
    Wie gut, dass Richard mich darauf vorbereitet hat, dachte Liz. Sie bekam ein wenig Platzangst zwischen all den Leuten. Vielleicht fühlte sie deshalb ihr Herz so heftig pochen. Vielleicht lag es auch daran, dass sie high war. Das kam ja manchmal vor. Verfolgungsangst. Kalte Schweißausbrüche. Eine Angstattacke. Sie grub die Fingernägel in ihre Handflächen, um sich zu beruhigen.
    »Du hast mein ganzes Mitgefühl, Liz, wirklich«, sagte Casey.
    Als sie die Eingangshalle betraten und sich über den Korridor in den Vorführraum drängten, griff Casey plötzlich nach Liz’ Handgelenk. In dem Moment war Liz dankbar für den mitfühlenden Händedruck. Der erdete sie wieder, als sie schon glaubte, sie würde gleich wie ein Himmelskörper aus ihrem Körper schießen und in eine unbestimmte stürmische See davonschweben.
    »Setz dich zu mir«, sagte Casey. »Ich kenne die Cavanaughs schon seit Jahren, wir sind alte Freunde – Bill hat doch Peters photorefraktive Keratektomie gemacht …« Sie musterte Liz eingehend. Ob sie merkte, dass Liz high war? Oder nahm Casey ihren verwirrten Gesichtsausdruck lediglich zur Kenntnis? »Seinen Astigmatismus.«
    »Oh«, sagte Liz. Sie atmete tief ein.
    Sie nahmen links vom Mittelgang zwei Plätze nebeneinander, in der Mitte des Zuschauerraums. Voll mittendrin. Richard hätte es für gut befunden, dachte Liz. Nun konnten alle sehen, dass sie nichts zu verbergen hatte, dass sie den Kopf stolz erhoben hielt. Es war, stellte sie fest, ihr erster Ausflug in die Öffentlichkeit, seit die elende Affäre ans Licht gekommen war. Da konnte sie nicht einfach spät ankommen, den Kopf einziehen, sich Coco schnappen und in ein Taxi springen.
    »Angeblich wurde Sherrie ungeplant schwanger«, vertraute Casey ihr an. »Peter hat bereits drei Kinder aus erster Ehe. Sherrie sollte sozusagen die jüngere, sexy Ehefrau sein – du weißt schon, mit der man Spaß hat, die nie zu müde ist, so was in der Art. Die ihm unterwegs auf der Fahrt ins Blaue einen bläst. Nach Daisys Geburt hatten sie dann aber eine schwierige Phase, sie nahm zu, und ich glaube, als Daisy in der Grundschule war, musste Sherrie in die Klinik, wegen Depressionen. Jedenfalls erfuhr Bill von Peter, dass der schon auf dem Absprung war, dann hat sie sich aber wieder gefangen und voilà!«
    »Sehr mütterlich ist sie nicht, unsere liebe Sherrie«, fuhr Casey fort. »Ich glaube, sie wollte gar kein Kind. Vielleicht wollte sie Peter bloß an sich binden. Sie ist eine Partylöwin, sammelt gern Kunst.«
    Gott sei Dank gingen allmählich die Lichter aus. Liz wusste nicht recht, wie sie auf Casey reagieren sollte. Ihr war irgendwie unwohl bei dieser ganzen indiskreten Vertraulichkeit. Ihr Gesicht fühlte sich heiß und rot an, als wäre sie verlegen oder wütend oder als wäre ihr warm. Sie war sich nicht sicher. Sie wusste nicht, ob sie nun dankbar sein sollte, dass Daisys Mutter ihr Kind nicht gewollt hatte und deshalb praktischerweise der Ursprung all der Probleme ihrer Tochter war, oder ob es für sie schlimmer sein sollte, dass ihr eigener Sohn eine Rolle im endlosen Elend dieses armen Kindes gespielt hatte. Da fiel ihr plötzlich ein, dass sie den Namen von Daisys Mutter noch nie ausgesprochen gehört hatte. Von Peter Cavanaugh hatte sie schon gehört. Dem Vater. Dem Familienerbe. Der dicken Brieftasche. Aber die pflichtvergessene Mutter – depressiv, übergewichtig, unfähig, in psychischer Behandlung, die ehemalige Spaßnudel – nein, kein Wunder, dass Daisy von Kindermädchen beaufsichtigt worden war. Was für ein trauriges, erschütterndes Bild! Überhaupt nicht so, wie sie sich die Cavanaughs und deren Leben in Saus und Braus vorgestellt hatte. Arme Daisy! Arme Sherrie! Liz wusste, wie Depressionen sich anfühlten. Bestimmt liebt Sherrie Cavanaugh ihre Tochter, dachte Liz. Auch wenn sie sie nicht gewollt hatte. Sie liebt sie bestimmt bis zur unerträglichen Schmerzgrenze gerade jetzt in diesem Moment. Bestimmt hasst sie sich auch selbst.
    Im Dunkeln empfand Liz plötzlich tiefes Mitgefühl für Sherrie Cavanaugh. Wie Liz war auch Sherrie Cavanaugh eine Kunstliebhaberin, die nicht arbeiten ging, und eine stümperhafte Mutter.
    Nachdem Liz’ Vater gestorben war, als sie noch Teenager war, kam ihre Mutter von der Arbeit als Zahnarzthelferin in Manhattan abends oft so erschöpft nach Hause,

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