Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
hatte Liz nicht gewusst, wie sie darauf antworten sollte. Sie schämte sich fast für Feigenbaum und noch mehr für sich selbst, war bestürzt über ihren Leichtsinn. Sie hatte an ihrem Schreibtisch gesessen und überlegt, wie sie reagieren sollte, als plötzlich Richard hereingestürzt war. Er war ihr gleich seltsam vorgekommen. Sie hätte merken müssen, dass mit ihm etwas nicht stimmte. Er wirkte aufgedunsen, als hätte jemand sein attraktives Gesicht auf den Kopierer gelegt und die Vergrößerungstaste gedrückt.
Nun öffnete sie die E-Mail von Daniel Feigenbaum und drückte die Antworttaste.
»Es tut mir leid«, klickten ihre Finger auf der Tastatur. »Was Sie geschrieben haben, hat mir wirklich gefallen, und ich wollte helfen, weiß aber nicht wie. Ich bin nicht die, als die ich mich ausgebe.« Dann drückte sie die Sendetaste und klappte ihren Laptop zu.
Sie ging wieder über den Flur, um bei den Kindern nach dem Rechten zu sehen. Erst zu Coco. Das kleine Mädchen schlief tief und fest, am unteren Ende des Betts zusammengerollt, den Po in die Höhe gestreckt. An ihrem Bäckchen klebten ein paar Plätzchenkrümel, und als Liz sie wegwischte, fiel ihr ein, dass sie nach der Teeparty gar nicht aufgeräumt hatten. Am Kopfkissen pappte ein halbes Plätzchen. Liz nahm es und steckte es sich in den Mund. Laken und Tagesdecke waren vermutlich ebenfalls verklebt. Am Morgen, nachdem Coco in die Schule gegangen war, würde sie das Bett abziehen. Sie küsste sie auf die Stirn.
Als Nächstes schlich sie zu Jake ins Zimmer. Auch der schlief wie ein Murmeltier. Seine Füße hingen seitlich über die Matratze. Er hatte sich in seine Laken verwickelt, die sich ihm wie eine Zwangsjacke um die Mitte schnürten. Sie wollte sie glattstreichen und ihn richtig zudecken, aber dabei würde sie ihn womöglich aufwecken. Heute Nacht musste er allein zurechtkommen.
In den darauffolgenden Jahren bekam dieser Augenblick für Liz in der Erinnerung eine irgendwie fast symbolische Bedeutung. Viele Entscheidungen waren natürlich neu zu überdenken, ihr Leben musste in der ganzen schmerzlichen Abfolge dieses Debakels neu aufgefädelt werden, doch war es dieser ganz besondere Moment, in dem sie am stärksten spürte, dass sie ihre Kinder hätte retten können, dass sie ihn hätte retten können, diesen Jungen, ihr Herzenskind, das sie viel zu sehr liebte. Sie hätte ihn in jener Nacht doch aufwecken sollen, dachte sie Jahre später, als er in Princeton im ersten Studienjahr vom College flog, oder als er mehr trank, als er vertragen konnte, und ihre Auseinandersetzungen immer erbitterter wurden, besonders jenes eine Mal, als sie seine Autoschlüssel konfiszieren musste und sie aus dem Fenster warf, während er sich auf sie stürzte. Oder jener schreckliche verregnete Nachmittag, als sie ihn in Ann Arbor aus dem Rekrutierungsbüro der Marines fortzerrte, weil er damit drohte, sich zur Armee zu melden. Sie bewohnten dort während des Studienjahrs ein hübsches Häuschen mit Garten, sie und Coco, nicht weit von Cocos geliebter Ballettschule und in Fußnähe zur Universität, wo Liz unterrichtete. Jake tauchte manchmal für ein paar Wochen auf und übernachtete auf der Liege im Gästezimmer, das Richard als Arbeitszimmer benutzte, wenn er an den Wochenenden auf Besuch kam. Richard hatte Liz ihren Freiraum gewährt, sie alle aber nie ganz losgelassen, und dafür war Liz ihm dankbar. Obwohl es schwer war, getrennt zu sein und dann doch wieder nicht. Sie waren inzwischen auf zwei verschiedenen Wegen, sie hatte ihm auf ihre Art ebenfalls Freiraum gewährt und ihn seine Karriere in New York verfolgen lassen, wie er es für richtig hielt. Doch wenn Jake auf Besuch kam, verspürte sie nicht dieses Gefühl von Ganzsein, wie wenn Richard dort neben ihr lag, wenn er Coco vorlas oder im Nebenzimmer telefonierte. Auch in Ann Arbor betrachtete sie nachts wieder den schlafenden Jake und fragte sich, was wohl aus ihm werden würde, wie sie ihm beistehen könnte und auch, wieso sie ihn damals in jener längst vergangenen Nacht nicht aufgeweckt, den Halbschlafenden ans Bettende gesetzt und zu ihm gesagt hatte: »Es tut mir leid, Liebes, dass ich es nicht richtig hingekriegt habe, aber es ist schließlich noch nicht zu spät.« Und warum sie ihm nicht gesagt hatte, es sei jetzt seine Aufgabe, die Dinge halbwegs wieder in Ordnung zu bringen, sie würde ihm zwar dabei helfen, doch müsse er zu dem stehen, was er getan hatte und was ihm angetan worden war, und wenn
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