Die Zerbrechlichkeit des Gluecks
Frotteestoff verschmiert. Sie machte die Haut wieder nass, seifte sie ein und spülte klar, und als sie diesmal die Rückseite des Handtuchs benutzte, blieb es sauber. Sie betrachtete ihr Gesicht im Spiegel. So ungeschminkt war ihre Haut blass und dünn. Durchscheinend. Man konnte das Gewirr darunter genau sehen. Ihre Schläfenadern, die sonst immer wie zarte blaue Strichlinien ausgesehen hatten – wie auf einer Architektenzeichnung –, wölbten sich nun in grauen Knötchen unter der Haut. Sie sah älter aus als sonst, fand sie. Es war, als würde sie in ihr zukünftiges Gesicht blicken.
Sie ging aus dem Bad in Cocos Zimmer hinüber. Coco saß auf dem Bett und veranstaltete für ihre Plüschkatze Buster gerade eine Teeparty mit richtigem Wasser, Salzkräckern und Pfefferminzplätzchen, die sie aus der Küche stibitzt hatte. Auf ihrer handgearbeiteten Steppdecke hatten sich bereits mehrere durchweichte Pfützen gebildet. Das war wieder mal typisch Coco. Als sie mit zwei Jahren gelernt hatte, aus ihrem Kinderbettchen zu krabbeln, hatte Liz sie manchmal morgens um halb zwei im Kittelschürzchen vor ihrer Staffelei gefunden, wie sie mit Wasserfarben malte. Dieses Wesen war einfach nicht zu bändigen. Der Trick bestand darin, sie zu kultivieren, ohne dabei ihr Temperament zu brechen, dachte Liz. Wie macht man das eigentlich genau? Liz setzte sich aufs Bett.
»Möchten Sie ein Tässchen Tee, Miss Maus?«, fragte Coco.
»Ja gern, Miss Marienkäferchen«, erwiderte Liz. »Danke.«
Coco goss etwas »Tee« in eine Tasse. Was Liz für Wasser gehalten hatte, stellte sich aus der Nähe betrachtet als Limonade heraus. Überall waren klebrige Flecken. Sie wollte schon anfangen zu schimpfen, überlegte es sich dann aber anders. Die Steppdecke musste sowieso in die Reinigung. Die Schokolade von ein paar der Pfefferminzplätzchen war schon geschmolzen.
Sie tat, als nähme sie einen kleinen Schluck. »Mmm, köstlich, Miss Marienkäferchen«, sagte sie.
Coco war damit beschäftigt, die restlichen Salzkräcker zu arrangieren.
»Ich fand dein Konzert heute ganz toll, Coco«, sagte Liz.
Coco hob den Blick. »Welcher Teil hat dir am besten gefallen? Wie ich marschiert bin oder wie ich gesungen hab?«
»Ich fand beides toll«, sagte Liz. »Aber besonders, wie du gesungen hast.«
»Du hast meine Stimme hören können«, sagte Coco.
»Ich hab deine Stimme hören können«, wiederholte Liz.
Coco strahlte.
»Komm, setz dich hier auf meinen Schoß«, sagte Liz. Coco krabbelte herüber und kuschelte sich an sie.
»Wo hast du denn so tanzen gelernt, Coco? So, wie du für die Mädchen in der Toilette getanzt hast?«
Coco hielt den Kopf gesenkt. »Von dem Film auf Mommas Computer.«
Liz streichelte über Cocos seidiges Köpfchen. Sie hatte ihre Tochter ja so vollkommen im Stich gelassen. War Sherrie Cavanaugh so zumute gewesen, als sie Daisys E-Mail zum ersten Mal gesehen hatte?
»Momma erklärt dir jetzt mal das mit dem Film«, sagte Liz. »Das Mädchen, das den gemacht hat, das hat nämlich einen großen Fehler gemacht. Alles an dem Film ist ein großer Fehler.«
»Warum?«, wollte Coco wissen. »Tanzen Frauen denn nicht immer so?«
Das musste Coco natürlich vermuten. Schließlich hatte sie es auf dem Computer ihrer eigenen Mutter gesehen. Und im Fernsehen wahrscheinlich Ähnliches. Am Zeitungskiosk. All die sexy Halloweenkostüme für Erwachsene im Laden, die Werbung für eine Gymnastikgruppe an der Bushaltestelle. Es stimmte ja auch, Frauen tanzten manchmal so. Doch Coco war noch so klein, Daisy war noch so jung. Und Jake war zu jung. Alle Beteiligten waren für so etwas zu jung.
»Ich glaub schon«, erwiderte Liz. »Das sollten sie aber nicht müssen. Frauen haben doch noch mehr zu bieten, mehr als ihre – wie soll ich sagen – ihre sexuelle Attraktivität für Männer, Männer, die sie gar nicht kennen.«
»Das versteh ich nicht, Momma«, sagte Coco.
Wie sollte sie auch? Sie war sechs Jahre alt.
»Ich verstehe es auch nicht«, sagte Liz. »Und diese Frau, das ist gar keine Frau, das ist ein Mädchen, bloß ein kleines Mädchen …«
Liz versagte die Stimme. Daisy war bloß ein kleines Mädchen. Ein Kind.
»Warum hat sie’s dann gemacht?«, wollte Coco wissen.
»Warum sie’s gemacht hat? Das weiß ich eigentlich auch nicht. Vielleicht hat sie es gemacht, damit ein Junge sie gernhatte. Vielleicht hat sie es gemacht, weil sie sich einsam fühlte. Ich weiß es nicht, aber es tut mir leid, dass du es gesehen hast. Es
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