Die Zerbrochene Kette - 6
Camilla.«
»Wir machen unsere Frauen nicht zu Neutren!« wiederholte Kindra mit Nachdruck. »Hin und wieder gerät eine Frau in einen solchen Haß auf ihre eigene Weiblichkeit, daß sie einen Heiler überredet oder besticht, ihretwillen das Gesetz zu brechen. Oft kommen sie danach zu uns, und wir können sie nicht abweisen; für gewöhnlich gibt es keinen anderen Ort mehr, an den sie gehen könnten, die Armen. Aber Frauen, die statt dessen zuerst zu uns kommen, lernen bei uns Selbstachtung und nicht Selbsthaß. Ich glaube nicht, daß in Jaelle – wenn sie bei uns aufwächst – ein solcher Haß entstehen wird.« Sie legte die Arme leicht um Jaelles Schultern und sprach zu ihr, aber nicht wie zu einem Kind, sondern wie zu ihresgleichen. Rohana überkam ein seltsames Gefühl, das sie einen Augenblick später ungläubig als Neid identifizierte.
»Du mußt wissen, Jaelle, daß du nach den Gesetzen unserer Gilde nicht gleich als Amazone aufgenommen werden kannst. Auch unsere eigenen Töchter müssen warten, bis sie alt genug sind, um als Frauen zu gelten, und sich zwischen einer Heirat und dem Leben bei uns entscheiden können. Wenn du fünfzehn bist, wird dir erlaubt werden, diese Wahl zu treffen. Bis dahin bist du nur meine Pflegetochter.«
Lady Jerana warf zänkisch ein: »Ich finde diese ganze Sache widerwärtig; kannst du ihr kein Ende machen, Lorill?«
Rohana dachte mit einem Zorn, dessen sie sich nicht fähig geglaubt hatte, widerwärtig sei es gewesen, die Diskussion vor dem Mädchen zu führen, als sei es taub, stumm, blind und schwachsinnig. Lorill Hastur ließ etwas von ihrer eigenen Entrüstung erkennen, als er antwortete: »Es ist Rohanas Recht, darüber zu beschließen, wo Jaelle aufwachsen soll, Jerana. Sie hat zuerst dich um Rat gefragt, und du hast auf dein Privileg, die Entscheidung zu treffen, verzichtet. Jetzt werde ich Rohanas Recht verteidigen.«
Oh, gut für dich, Lorill! Sie sah ihn dankbar an und dachte bei sich, den Ersten Ratgeber zu spielen könne nicht die angenehmste aller Beschäftigungen sein. Jeranas hübsches, geistloses Gesicht verzog sich höhnisch.
»Nun, Rohana, wenigstens brauchst du dir keine Mühe mehr zu geben, einen Mann zu finden, der Jalaks Tochter heiratet. Ich habe immer gehört, daß die Freien Amazonen eifrig nach hübschen jungen Mädchen suchen, um sie zu ihrem unnatürlichen Leben zu bekehren, sie gegen Ehe und Mutterschaft aufzuhetzen und sie zu lehren, Männer zu hassen und Liebhaberinnen von Frauen zu werden. Es war klug von dir, Jaelle ihnen zu überlassen…«
Beinahe liebenswürdig entgegnete Rohana: »Es tut mir leid, daß du so darüber empfindest, Jerana, aber für Jaelle scheint es mir eine gute Wahl zu sein. Du hast sie nicht selbst als Pflegetochter verlangt, und da du sie nicht liebst, ist es auch ganz gut so. Und ich wäre in der Tat selbstsüchtig, würde ich Jaelle an mich fesseln, nur um einen Trost in meiner Trauer um Melora zu haben.«
»Du willst sie dieser… dieser Freien Amazone geben, diesem Schandfleck für alle Frauen?«
»Ich kenne sie, Jerana«, erwiderte Rohana ruhig, »und du kennst sie nicht.« Sie breitete für Jaelle die Arme aus. »Ich habe dir gesagt, träfe meine eigene Tochter eine solche Wahl, würde ich auf sie hören. Es sei, wie du es möchtest.« Sie zog Jaelle an sich, und zum erstenmal umarmte das kleine Mädchen sie fest und küßte sie mit strahlenden Augen auf die Wange. Rohana erklärte: »Ich gebe dich Kindra als Pflegetochter, Jaelle, und ich bitte dich, ihr eine pflichtbewußte Tochter zu sein und mich nicht zu vergessen.«
Dann ließ sie Jaelle los und streckte der Freien Amazone die Hände entgegen. Mit ihren schwieligen, sonnenbraunen Händen ergriff Kindra sie; mit ehrlichen grauen Augen sah sie sie an und sagte: »Lady, möge die Göttin an mir tun, was ich an Jaelle tun werde.«
Rohanas Geist war weit offen. Wieder und zum letztenmal spürte sie die große Güte und Zuverlässigkeit der Amazone. Sie wußte, Kindra konnte sie ihr Leben – oder das Leben eines anderen ihr kostbaren Menschen anvertrauen. Zu ihrer Überraschung merkte sie, daß ihre Augen sich mit Tränen füllten.
Sie dachte: Fast wünsche ich mir, auch mit dir zu gehen…
»Das wünsche ich auch, Rohana«, sagte Kindra leise. Es gab kein formelles »Meine Dame« mehr, dafür war die Verbindung zwischen ihnen zu stark geworden. Rohana konnte nicht sprechen, nicht einmal Lebewohl sagen. Sie legte Jaelles Hand in Kindras und wandte sich ab.
Das
Weitere Kostenlose Bücher